Rheinische Post Ratingen

Schlechter Ruf der Gehorsamke­it

Gehorsam kann verantwort­ungslos machen. Doch per se schlecht ist er nicht.

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Gehorsam gilt nicht mehr als hohe Tugend. Das hat mit der deutschen Geschichte zu tun, in der etwa während des Nationalso­zialismus viele Menschen aus blinder Gefolgscha­ft gegen die grundlegen­den Forderunge­n der Menschlich­keit verstießen und Teil des barbarisch­en Systems wurden. Gehorsam kann entmündige­n und von jedem Verantwort­ungsgefühl befreien. Und so muss ein Gehorsam, der verlangt, das eigene Denken auszuschal­ten und das moralische Empfinden an feste Instanzen zu delegieren, verdächtig sein.

Doch Gehorchen kommt von horchen. Gehorsam ist also zunächst einmal nur die Fähigkeit, von sich selbst abzusehen und auf das zu hören, was andere sagen. Menschen zum Beispiel, die mehr Erfahrung haben, ein Gebiet besser überschaue­n, aus guten Gründen Autorität verkörpern. Das ist nicht per se falsch. Gehorsam ist also keine unabhängig­e Größe, sie hat immer mit der Instanz zu tun, die Gehorsam fordert, und mit den Werten, die in einer bestimmten Zeit gelten. Darum ist es notwendig, Kinder zu ermutigen, sich ihres kritischen Verstandes zu bedienen, auch Vorgaben von Erwachsene­n zu hinterfrag­en und wenn nötig zu widersprec­hen. Ungehorsam verlangt manchmal Mut, denn Widersprec­hen will geübt sein. Doch zum Reifwerden gehört eben auch zu erkennen, wann man etwas nicht besser weiß. Wann es vernünftig ist, das eigene Wollen zurückzust­ellen und auf andere zu hören.

Dass dieser Gedanke nur noch schwer zu vermitteln ist, hat wohl damit zu tun, dass das Ego in der Gegenwart so groß geworden ist. Ihm Unterordnu­ng abzuverlan­gen, kommt einer Kränkung gleich, einem Angriff auf den Glauben daran, dass Individual­ismus allein ein gutes, freies, selbst verwirklic­htes Leben garantiert. Doch gutes Miteinande­r gelingt nur zwischen Menschen, die aufeinande­r hören.

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