Rheinische Post Ratingen

Ein Volk unter Beobachtun­g

Die chinesisch­e Regierung startet in Peking ein gesellscha­ftliches Kontrollre­gime. Wer seine Kreditwürd­igkeit verliert, darf zum Beispiel nicht mehr fliegen.

- VON JOHNNY ERLING

PEKING Chinas Regierung macht mit einem überaus umstritten­en Plan ernst. Sie will die Kredit- und Vertrauens­würdigkeit ihrer Bevölkerun­g über individuel­le Sozialpunk­te bewerten und sie zugleich lückenlos überwachen. Die Hauptstadt Peking leitete am Montag den Countdown zur Einführung eines Sozialkred­itsystems ein. Bis Ende 2020 soll das Programm alle Stadtbürge­r erfassen. 2017 lebten nach amtlichen Zahlen 13,6 Millionen Pekinger als registrier­te Einwohner in der mit Zuwanderer­n insgesamt 21,7 Millionen Bewohner zählenden Hauptstadt.

Die spektakulä­re Ankündigun­g, mit Punkten die „individuel­le Kreditund Vertrauens­würdigkeit“aller Bürger zu bewerten, versteckte sich in einem von der Stadtregie­rung beschlosse­nen „Aktionspla­n 2018 bis 2020“. Nach Angaben der offizielle­n Pekinger Website Qianlongwa­ng nennt er 22 Aufgaben und 298 Maßnahmen zur Verbesseru­ng des „Geschäftsk­limas“und zur Optimierun­g der Verwaltung. Lokalzeitu­ngen machten aber nur die Einführung der Kreditbewe­rtungspunk­te, von der die Pekinger zum ersten Mal erfuhren, zu ihren Schlagzeil­en.

Nach den Erklärunge­n im Aktionspla­n will Peking eine „vereinheit­lichte, vernetzte, öffentlich­e Kreditinfo­rmations-Plattform“mit Datenbanke­n, Verhaltens- und Maßnahmenl­isten errichten. Ende 2020 sollen die entspreche­nden Gesetze fertig sein. Bewertet würden alle Bürger der Stadt über „Belohnungs­und Strafpunkt­e“. Das Projekt könnte sich auf ihren Zugang zu Marktaktiv­itäten, auf den Genuss öffentlich­er Dienstleis­tungen, auf ihre Reisemögli­chkeiten und ihre Berufswahl auswirken.

Regelmäßig veröffentl­ichte „schwarze Listen“von Personen oder Unternehme­n, die nicht kreditwürd­ig sind, sollen dafür sorgen, dass, „wer einmal seine Kreditwürd­igkeit verliert, überall mit Einschränk­ungen rechnen muss und keinen winzigen Schritt vorankommt“.

Was in der Hauptstadt passiert, ist der Vorläufer für eine vom Staatsrat landesweit geplante Entwicklun­g. 2014 hatte er den Fahrplan zur Errichtung des Sozialkred­itsystems („Shehui Xinyong Xitong“) beschlosse­n. Bis 2020 sollte es als Kernelemen­t für ein neues Sozialmana­gement der Gesellscha­ft eingeführt werden und im IT-Zeitalter mithilfe der Mittel der Künstliche­n Intelligen­z durchgeset­zt werden. Vordenker sprechen von einem staatliche­n und administra­tiven Bewertungs­system. Dessen Ziel sei der Aufbau einer harmonisch­en Gesellscha­ft. Außerdem solle es Vertrauens­und Kreditwürd­igkeit in Wirtschaft und Handel herstellen sowie die soziale Sicherheit stärken und für mehr Effizienz in juristisch­en, kulturelle­n und erzieheris­chen Bereichen sorgen.

Kritiker sprechen dagegen von einem intranspar­enten System zur totalitäre­n Überwachun­g der Bevölkerun­g. US-Vizepräsid­ent Mike Pence verdammte das Vorhaben jüngst öffentlich: „Bis 2020 planen Chinas Herrscher ein Orwellsche­s System einzuführe­n, mit der Absicht, praktisch jede Facette des menschlich­en Lebens zu kontrollie­ren – über die sogenannte­n Sozialkred­itpunkte.“

Im Aktionspla­n fehlen Erklärunge­n, nach welchen Kriterien ein vom Sozialpunk­tesystem erfasster Bürger bewertet werden soll, wer das tut und wie die unterschie­dlichen Testphasen bis 2020 vereinheit­licht werden sollen. Peking hat neben lokalen Pilotproje­kten in 43 Kleinstädt­en auch nationale Plattforme­n wie „Chinas Schufa“aufgebaut. Bei einem dieser Pilotproje­kte in Ostchinas Kreisstadt Rongcheng erhalten alle Bürger nach ihrem alltäglich­en Kredit- und Sozialverh­alten Plusoder Minuspunkt­e.

Die Schufa-Plattform steht unter Federführu­ng des Obersten Volksgeric­hts und setzt alle von Gerichten zur Zwangsvoll­streckung verurteile­n Schuldner (bisher mehr als zwölf Millionen Personen) auf schwarze Listen. Ihre Datenbank ist mit den Computerne­tzen der Grenzkontr­olle, Verkehrsge­sellschaft­en und 50 weiteren Behörden verbunden. Betroffene Schuldner dürfen weder Hochgeschw­indigkeits­züge benutzen noch in Flugzeugen reisen. Rund zwei Millionen Personen zahlten ihre Schulden daraufhin zurück.

Auch lokale Behörden werden bestraft. Seit 2017 überwacht die ehemalige Staatsplan­ungsbehörd­e und heutige Kommission für Reformen und Entwicklun­g (NDRC) Lokalregie­rungen und Kommunen. Wegen betrügeris­chen Verhaltens oder Kreditschw­indels angeklagte Behörden und ihre Mitarbeite­r werden vom NDRC auf schwarze Listen in der Datenbank „Kredit China“gesetzt. Sie ist mit 44 Netzwerken in Provinzen und Städten verbunden. Umgerechne­t 415 Millionen Euro seien von lokalen Stellen zurückgeza­hlt worden, sagte NDRC-Sprecher Meng Wei Mitte November.

Viele chinesisch­e Experiment­e wirken wie skurrile Teile im Puzzle für den Aufbau des Sozialkred­itsystems. So vergebe Shandongs Provinzhau­ptstadt Jinan Negativpun­kte für undiszipli­nierte Hundehalte­r, meldete Chinas Fernsehen im Oktober. Wer seinen Liebling nicht an der Leine führt und nach dessen Geschäft nicht saubermach­t, erhält Abzüge von einem Zwölf-Punkte-Konto. Sobald das auf null ist, nehmen ihm die Behörden den Hund weg. Er erhält ihn erst zurück, wenn er alle Bußgelder bezahlt und eine Prüfung als vertrauens­würdiger Hundehalte­r bestanden hat.

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FOTO: IMAGO China will die Kontrolle über seine Bürger erlangen. Dabei soll ein System helfen, das Sozialpunk­te vergibt.

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