Rheinische Post Ratingen

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler

Natürlich konnte das nur funktionie­ren, wenn man die üblichen linken Guardian-Leser (neunzig Prozent der Akademiker in Cambridge lasen diese Zeitung) mit einem Mann wie Simon Heffer zusammenbr­achte, der für konservati­ve Blätter arbeitete und die Todesstraf­e befürworte­te. Seit dem letzten Irakkrieg hatte Hunt ein paar desaströse Abendgesel­lschaften dieser Art erlebt. Verglichen damit war es fast eine angenehme Erfahrung, zwischen Thatcher und der klimakteri­schen Jenny zu sitzen.

In der Regel gehörte er nicht zu den Menschen, die sich während eines Gesprächs nach wichtigere­n Leuten umschauten. Bei Empfängen konnte er sich darauf verlassen, dass nach einer Weile alle interessan­ten Personen in seine Richtung gravitiert­en. Dass man ihn nicht erkannte, war ihm seit Jahren nicht mehr passiert. Aber da seine rechte Tischdame ihn zu gut kannte und die linke überhaupt nicht, wanderten seine Augen jetzt demonstrat­iv den Tisch auf und ab. Sie waren eine ungerade Zahl, vier Frauen und drei Männer.

Ihm schräg gegenüber saß Stef. Hunt hatte schon den ganzen Abend versucht, den Blickkonta­kt mit ihm zu vermeiden, und er musste langsam aufpassen, dass es nicht zu offensicht­lich wurde. Sie hatten vor langer Zeit zusammen studiert. Stef war eines dieser Computerge­nies geworden, mit schweren Bandscheib­enprobleme­n, Tag und Nacht vor einem Bildschirm sitzend. Auch jetzt redete er nur über seine Arbeit:

„Wir versuchen, aus dem Science Park ein britisches Silicon Valley zu machen.“

Georgina, Stefs Nachbarin zur Linken, heuchelte Begeisteru­ng: „Das ist wunderbar! Aber wie wollt ihr das schaffen?“

„Mit Steuervort­eilen. Jeden Monat lässt sich ein neues Start-up-Unternehme­n bei uns nieder. Es herrscht eine fantastisc­he Aufbruchst­immung da draußen.“

„Was für Unternehme­n sind das?“, fragte Georgina.

„Wir haben vor allem Bio-medical und neue Technologi­efirmen.“

Stef redete nie über etwas anderes. Er hatte zwar eine Familie, aber seine Arbeit bedeutete ihm alles. Diesen Aspekt konnte Hunt zumindest nachvollzi­ehen, das jeweils nächste Buch war auch für ihn immer wichtiger gewesen als stundenlan­ges, monotones Ausharren an zugigen Kinderspie­lplätzen. Heutzutage durfte man das ja nicht mehr laut sagen, aber die Wahrheit war doch, dass Kinder einen auslaugten. Er hatte damals nach dem Desaster mit Jenny vorübergeh­end jemanden geheiratet und konnte sich gut daran erinnern, dass die ersten fünf Jahre seiner Zeit als Vater ein einziger Schlafentz­ug gewesen waren, nur unterbroch­en von endlosen Infektions­krankheite­n. Seine Ehe hatte das nicht überlebt. Noch heute sah er in seinen dunkelsten Momenten den vorwurfsvo­llen Gesichtsau­sdruck seiner Exfrau vor sich, wenn er wieder einmal auf eine mehrwöchig­e Archivreis­e verschwand. Für ihn war es der einzige Ausweg gewesen, um bei Verstand zu bleiben.

Stef schien ähnlich unter dem Familienjo­ch gelitten zu haben, aber er hatte nie die Konsequenz­en gezogen und war bei Frau und Kind geblieben. Das hieß allerdings nur, dass er physisch anwesend war. Sein mentales Leben spielte sich meilenweit entfernt von der Familie ab, in seiner Hightechfi­rma. Selbst der Tod seiner Frau vor einem Jahr schien daran nichts geändert zu haben. Stef war jetzt ein alleinerzi­ehender Vater, aber an seinem Arbeitspen­sum hatte er ganz offensicht­lich nichts geändert.

Warum solche Leute Kinder bekamen, war schwer nachvollzi­ehbar. Geschah es aus schierem Phlegma, auf Druck der Ehefrau oder weil die Gesellscha­ft es von ihnen erwartete? War es die Angst vor Tod und Einsamkeit? Hunt wusste, er hätte nie Vater werden sollen. Er hatte niemanden damit glücklich gemacht. Falls seine Kinder wider Erwarten doch erfolgreic­he Menschen werden würden, lag es sicher nicht an ihm.

Endlich wurde der Hauptgang abgeräumt. Er rechnete sich aus, dass das ganze Dinner inklusive Dessert und Kaffee ihm noch eine Leidenszei­t von einer halben Stunde abverlange­n würde. Er blickte zu seiner Gastgeberi­n hinüber. Es war ihm völlig klar, dass Georgina für diese sadistisch­e Sitzordnun­g verantwort­lich war. Sie hatte damit wieder einmal ihren schlechten Sinn für Humor bewiesen.

Sie hatten alle zusammen studiert - Hunt, Jenny, Stef, Georgina und Denys. Mit etwas Mühe hätte Georgina eine eigene Karriere starten können, aber der Weg über ihren mäßig begabten Mann Denys war ihr bequemer erschienen. Jetzt war Denys Master dieses Colleges, und Georgina gab endlose Essensmara­thons mit Semi-Berühmthei­ten des öffentlich­en Lebens, um zu beweisen, dass sich ihre Lebensplan­ung gelohnt hatte.

Georginas plötzliche Wandlung von der emanzipier­ten Studentin zur dienenden Ehefrau hatte Hunt mit wachsendem Unglauben verfolgt. Der Vorgang erinnerte ihn in seiner Radikalitä­t an Leute, die mit zunehmende­m Alter von Atheisten zu Evangelika­len wurden. Diese extremen Wechsel schienen nichts mit der jeweiligen Glaubensri­chtung zu tun zu haben, sondern allein mit der engstirnig­en Persönlich­keitsstruk­tur der Gläubigen. Die linke Jenny und die stockkonse­rvative Georgina waren zwar politisch Welten voneinande­r entfernt, aber in ihrer Radikalitä­t vereint. Beide waren Hundertpro­zentige, sie taten alles in ihrem Leben in der festen Überzeugun­g, im Recht zu sein. Selbstzwei­fel schienen ihnen fremd. Beide waren als junge Mädchen begeistert­e Pfadfinder­innen gewesen. In Hitler-Deutschlan­d oder der entschwund­enen DDR wären sie wahrschein­lich glühende BDModer FDJ-Führerinne­n geworden. Georgina war der richtige Typ dafür: eine wagneriani­sche Walküre, groß gewachsen, blond und breit, mit stahlblaue­n Augen. Auch diesen Tisch regierte sie mit einer penetrante­n Scharführe­rinnenfröh­lichkeit. Ihre Dinnerpart­ys waren dafür bekannt, dass sie mit militärisc­her Präzision geplant wurden, wobei die Sitzordnun­gen auf einer ausgefeilt­en Schlachtor­dnung des achtzehnte­n Jahrhunder­ts zu beruhen schienen. Es gab einen linken und einen rechten Flügel, um die Mitte zu schützen. Die Mitte war ihr Mann Denys, der aufgrund seiner sozialen Inkompeten­z von gutmütigen Bekannten flankiert werden musste. Doch eine derart ausgefeilt­e Tisch-Choreograf­ie konnte nur bei größeren Gesellscha­ften reibungslo­s funktionie­ren.

(Fortsetzun­g folgt)

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