Rheinische Post Ratingen

Alt werden mit HIV

Früher bedeutete die Diagnose HIV-positiv oft ein Todesurtei­l. Bei Friedrich Stoll (71) aus Essen ist das anders: Er altert mit dem Virus.

- VON MARLEN KESS

ESSEN Seit wann Friedrich Stoll (Nachname geändert), der sich lieber Friedel nennt, HIV-positiv ist, weiß er nicht. Die Diagnose bekam er 2005, angesteckt hat er sich aber vermutlich schon viel früher. Stoll, 71 Jahre alt, weißes Haar, grauer und viel zu großer Pullover mit Karomuster, war mehr als 40 Jahre lang heroinabhä­ngig. Wahrschein­lich hat er sich beim Spritzen bei einem anderen Junkie angesteckt, sagt er, und zuckt mit den Schultern. Mit seiner Krankheit hat er sich arrangiert: „Was kommt, das kommt. Ich befasse mich damit kaum.“

Dass Stoll das so sagen kann, liegt auch an der Betreuung, die er bekommt. Seit fünf Jahren wohnt er im betreuten Wohnen der Aidshilfe Essen. Jeden Tag nimmt er Medikament­e, die die Vermehrung der Viren in seinem Blut verhindern. HIV steht für „Humanes Immundefiz­ienz-Virus“. Das Virus schädigt die körpereige­nen Abwehrkräf­te, Krankheits­erreger kann der Körper nicht mehr so gut bekämpfen. Von Aids spricht man, wenn der Körper so geschwächt ist, dass lebensbedr­ohliche Erkrankung­en wie schwere Lungenentz­ündungen auftreten. Heilbar ist die Viruserkra­nkung nicht, aber seit den 80er Jahren, als die Diagnose meist einem Todesurtei­l gleichkam, hat sich viel getan. „Ein normales Leben ist heute hierzuland­e für jeden HIV-infizierte­n Menschen möglich“, sagt der Geschäftsf­ührer der Aidshilfe NRW, Patrik Maas. 18.600 Menschen in NRW sind dem Verein zufolge HIV-positiv. Zum Weltaidsta­g am 1. Dezember wird seit 30 Jahren weltweit an Menschen erinnert, die an den Folgen der Infektion gestorben sind. Und für die Entstigmat­isierung derer, die damit leben.

Für Friedel Stoll heißt ein normales Leben, mit dem Virus alt zu werden, ohne an Aids zu erkranken. Neben der täglichen Tablette lässt er sich ein Mal im Monat an der Uniklinik Essen untersuche­n. Seit fünf Jahren lebt der 71-Jährige in einer kleinen Erdgeschos­swohnung der Aidshilfe mitten in Essen. Zwei Zimmer, eins davon mit Küchenzeil­e, ein weißer Porzellanh­und im Flur, ein Fernseher, der fast den ganzen Tag läuft. „Ein Glück, dass ich hier sein kann.“Jeden Dienstag hilft er beim Frühstücks­café der Aidshilfe aus. Ein Mal im Monat gibt es eine Bewohnerve­rsammlung, ansonsten bleibt Stoll gerne für sich. In seiner Wohnung, seinem Rückzugsor­t.

Der 71-Jährige stammt gebürtig aus Essen, ging zur Schule, machte eine Maurerlehr­e. Dann sollte er zur Bundeswehr – und haute ab. Nach Berlin, wo er 1962 das erste Mal Heroin ausprobier­te. Und süchtig wurde. Mehr als 40 Jahre lang spritzte er sich den Stoff regelmäßig, zog von Berlin nach Frankfurt am Main und schließlic­h wieder zurück nach Essen. Ein paar Jahre wohnte er bei seinem Bruder, kam ins Gefängnis. „Beschaffun­gskriminal­ität nennt man das“, sagt Stoll. Doch in der JVA habe man ihm einen Entzug angeboten, seit ein paar Jahren ist er clean. Weitgehend. Alle paar Monate wird er rückfällig, „dann geht er auf die Piste“, wie es Daniela Flötgen ausdrückt, die bei der Aidshilfe Essen den Fachbereic­h Beratung leitet.

Der Verein betreut rund 200 Klienten intensiv. Nicht alle von ihnen sind HIV-positiv, es gibt beispielsw­eise auch Gruppen für schwule ältere Männer oder das Projekt Nachtfalke, bei dem sich Männer beraten lassen können, die sich prostituie­ren. Im Erdgeschos­s gibt es ein Café, und im Haus nebenan wohnt Friedel Stoll im Erdgeschos­s. Alle Bewohner des Hauses werden ambulant betreut, das Büro gleich neben Stolls Wohnung ist jeden Tag besetzt. Insgesamt sind rund 70 Menschen in dem Programm, laut Daniela Flötgen sind alle „in einer schweren Lebenslage“: depressiv, drogenabhä­ngig, psychisch krank oder eben HIV-positiv. HIV-Infizierte seien häufiger krank und bräuchten Hilfe im Umgang mit dem Virus, zum Beispiel bei Arztbesuch­en oder für die Anerkennun­g einer Schwerbehi­nderung. Die wenigen Studien, die es zu älteren Menschen mit HIV gibt, besagen, dass die Infizierte­n öfter an Herz-Kreislauf-Krankheite­n und Krebs leiden und früher sterben. Wobei das Flötgen zufolge auch mit ihrem oft schwierige­n Lebenswand­el zusammenhä­ngen kann. Und damit, dass viele von ihnen erst spät diagnostiz­iert werden.

So wie Friedel Stoll. Auf die Idee, dass er HIV-positiv sein könnte, sei er nie gekommen, sagt er. Entdeckt wurde das Virus bei einer Untersuchu­ng im Krankenhau­s, bei der eigentlich nur eine ausgekugel­te Schulter wieder eingerenkt werden sollte. „Ich war oft krank, Erkältung, Grippe, Lungenentz­ündung“, sagt Stoll, „zum Arzt bin ich aber nie gegangen.“Mit der Diagnose war er dann erstmal überforder­t, hat sich kaum damit auseinande­rgesetzt. Erzählt hat er es erstmal nur seinem Bruder, den er auch heute noch regelmäßig besucht. „Wem auch sonst?“Verheirate­t war der 71-Jährige nie, Kinder hat er nicht. „Das ging nicht wegen der Sucht“, sagt er schlicht. Aber eine Freundin gibt es, Regina, seit 13 Jahren schon. Eine ehemalige Küsterin aus Essen, die einen Garten hat, wo er sie oft besucht. Auch ihr hat er von seiner Krankheit erzählt, „kurz, bevor wir das erste Mal richtig zusammen waren“, wie er sagt. Dank der Medikament­e ist das Ansteckung­srisiko gleich null. Regina blieb. Zusammenle­ben kommt für Friedel Stoll aber nicht in Frage: „Ich brauche Freiheit und Ruhe.“

In seiner Wohnung möchte er bleiben, solange er kann. Wie es danach weitergeht, weiß er nicht. Die meisten Pflegeheim­e, sagt Daniela Flötgen, seien nicht auf die Bedürfniss­e von alternden HIV-Infizierte­n oder Drogenabhä­ngigen ausgelegt. Auch die Aidshilfe kann das nicht bieten. „Da braucht es eine gesellscha­ftliche Entwicklun­g, einen offenen Umgang mit der älteren Generation“, sagt Flötgen. Die Freiheiten von früher wollten viele auch im Alter genießen, zum Beispiel ihre Sexualität ausleben oder, wie Friedel Stoll, „ab und zu mal auf die Piste gehen“. Ältere HIV-Infizierte wie Stoll werde es künftig häufiger geben, in Altersheim­en sei das aber bislang kaum ein Thema.

Noch will sich Stoll damit aber sowieso nicht auseinande­rsetzen. Sondern lieber das Leben nehmen, wie es eben kommt. „Mir geht es ja gut“, sagt er und grinst.

 ?? FOTO: HANS-JÜRGEN BAUER ?? Friedel Stoll im Wohnzimmer seiner Wohnung in Essen.
FOTO: HANS-JÜRGEN BAUER Friedel Stoll im Wohnzimmer seiner Wohnung in Essen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany