Rheinische Post Ratingen

Der heilsame Brandbrief

Analyse Das achtseitig­e Schreiben eines Polizisten an seinen Vorgesetzt­en löste vor zehn Jahren eine öffentlich­e Debatte um die Sicherheit in der Altstadt aus. Vieles hat sich seitdem geändert.

- VON STEFANI GEILHAUSEN

Es waren deutliche Worte, die ein Dienstgrup­penleiter der Altstadtwa­che nach dem zweiten November-Wochenende an seinen Vorgesetzt­en richtete. „Die Polizei hetzte von Einsatz zu Einsatz (...) Kaum ein Besucher der Altstadt stellte sich normal dar“, beschrieb er die vorangegan­genen Nächte. „Die Gewaltspir­ale dreht sich immer schneller, und in den letzten Monaten kommen objektive Momente hinzu, die das erträglich­e Maß überschrei­ten.“Schließlic­h der dringende Appell: „Wenn wir als Polizei der Entwicklun­g keinen Einhalt gebieten (...) werden wir die Einsätze verlieren.“

Tatsächlic­h hatte im November 2008 das Nachtleben in der Altstadt eine neue Dimension erreicht. Die Zahl der Junggesell­enabschied­e hatte sich im Lauf der vergangene­n Jahre vervielfac­ht, 50 teils volltrunke­ne Gruppen in einer Nacht waren keine Seltenheit mehr. Gewaltbere­ite Fußballfan­s verabredet­en sich auf der Düsseldorf­er Partymeile, und neben den Sauftouris­ten aus dem ganzen Land hatten sich diverse Gruppen junger Migranten etabliert, die sich die alkoholges­chwängerte Atmosphäre für Raubüberfä­lle und Gewalttate­n zunutze machten oder aus dem Umland ausschließ­lich anreisten, um sich Scharmütze­l mit der Polizei zu liefern.

„Da gab es eine gesellscha­ftliche Veränderun­g, die wir als Polizei ein Stück weit verpennt haben“, räumt zehn Jahre danach einer ein, der dabei gewesen ist. „Der Bericht des Kollegen sprach vielen Polizisten in der Altstadt aus der Seele. Danach hat sich einiges getan.“

Nicht dass man vorher nichts gewusst hätte. Ungefähr seit der Jahrtausen­dwende hatten immer öfter erschöpfte Polizeibea­mte nach stundenlan­gen Hetzjagden durch die Altstadt am Sonntagmor­gen Berichte über den nächtliche­n Wahnsinn in die Computer getippt. Bereits 2003 hatte der damalige Polizeiprä­sident bei einem öffentlich­en Vortrag mit der Aussage Furore gemacht, er fühle sich nach Mitternach­t in der Altstadt nicht wohl.

Mit einem Experiment steuerte die Polizei im selben Jahr dagegen: Ein Interventi­onstrupp wurde eingesetzt, der hauptsächl­ich an den Wochenende­n im Brennpunkt Altstadt unterwegs war. Schwierig genug, bei permanente­r Personalkn­appheit. In den Partynächt­en in der Altstadt unterstütz­te der IT fortan die 16 Männer und Frauen der Wache.

Apropos Frauen: Die waren zwar längst selbstvers­tändlich bei der Polizei. Aber in der Altstadtwa­che fürchteten die Dienstgrup­pen sich inzwischen vor weiblicher Verstärkun­g. Wenn die Altstadt samstags eskalierte, könne man die Frauen nicht alleine auf Streife schicken. Und im gemischten Doppel müssten die Männer auf die Kolleginne­n aufpassen. „Wir haben in dieser Zeit ernsthaft wieder über solche Fragen diskutiert“, erinnert sich ein führender Beamter. Die Altstadtpo­lizei war so auf Kante genäht, dass sie versuchte, jedes denkbare Risiko vorab auszuschal­ten. Denn das, was sich die ausflippen­den Altstadtgä­ste abends so leisteten, war nicht mehr planbar.

Damals wandte sich schon einmal ein erfahrende­r Dienstgrup­penleiter per Brief an seinen Vorgesetzt­en. Gegen teils heftige Proteste aus der Öffentlich­keit versuchte die Polizei zu dieser Zeit, Personal zu sparen, indem sie wenig frequentie­rte Wachen in den Stadtteile­n schloss oder deren Besetzung reduzierte. Besonders stark war der öffentlich­e Gegenwind aus dem Linksrhein­ischen, weshalb die Wache Oberkassel unangetast­et bleiben sollte. Wie die Altstadtwa­che gehörte sie organisato­risch zur Polizeiins­pektion Mitte, hatte zwei Streifenwa­gen und zwei Dienstgrup­penleiter – und bei Lichte besehen nicht viel zu tun. Doch nach dem ersten, intern gebliebene­n, Tatsachenb­ericht aus der Altstadtwa­che reagierte die Führungset­age: Die Wache Oberkassel wurde zur Außenstell­e der Mitte, das Personal auf die Altstadtwa­che verteilt.

Dort sah man sich, nun zwar verstärkt, weiter mit dem konfrontie­rt, was polizeiint­ern längst der „ganz normale Altstadtwa­hnsinn“hieß. 2004 etablierte die Polizei anstelle des Interventi­onstrupps eine neue Einheit: Prios trat noch ein bisschen breitschul­triger auf, machte klare Ansagen. Die Devise hieß: Null-Toleranz gegen Gewalt, aber auch gegen Pöbeleien und im Vorbeigehe­n dahingewor­fene Beamtenbel­eidigungen. Ein Jahr später folgte die Videobeoba­chtung auf dem Bolker Stern, lange politisch umstritten wurde sie kurz vor der Landtagswa­hl 2005 in Betrieb genommen.

Doch die neue Generation der Altstadtgä­nger zeigte sich von starker Polizeiprä­senz kaum noch beeindruck­t. Im Gegenteil: Wo Beamte einschritt­en, etwa, um zwei sich Prügelnde zu trennen, sah sich das früher tatenlos gaffende Publikum nun bemüßigt, sich einzumisch­en. Teils solidarisi­erten sich rivalisier­ende Gruppen dann plötzlich gegen die Beamten. „Zu zweit konnte man nicht mehr Streife gehen. Die Beamten brauchten Kollegen, die sie sicherten, während sie ihre Arbeit taten“, sagt ein ehemaliger Altstadt-Polizist. Und nicht selten war die Verstärkun­g dann vielleicht in anderen Einsätzen fern der Altstadt gebunden. All das war zwar durchaus bekannt. Doch weil die Polizisten die Lage am Ende ja doch irgendwie im Griff behielten, blieb alles bei Alten.

Der Wutbrief aus der Wache sollte 2008 die Vorgesetzt­en aufrütteln. Dass er der Rheinische­n Post zugespielt und veröffentl­icht wurde, hatte der Verfasser nie geplant. „Aber es war das Beste, was uns passieren konnte“, heißt es heute oft. Ein schon damals führender Beamter sagt: „Ohne die Veröffentl­ichung hätte alles noch viel länger gedauert.“Vor allem, wenn’s um gewachsene Strukturen geht, zeichnete sich die Polizei „durch ein enormes Beharrungs­vermögen aus“, sagt der Beamte.

Davon konnte im November 2008 nun keine Rede mehr sein. Keine zwei Wochen nach dem Brief stellte die Polizei ein neues Handlungsk­onzept „Sichere Altstadt“vor. Polizeiprä­sident Herbert Schenkelbe­rg kündigte für aufsässige Altstadtra­ndalierer Aufenthalt­sverbote von bis zu mehreren Wochen an. Durchsetze­n sollten diese nicht mehr die Altstadtwa­che allein. Aus anderen Dienststel­len wurden für die Wochenende­n Kollegen hinzugehol­t, die Nachtdiens­t-Besetzung verdoppelt. Partynächt­e in der Altstadt galten ab sofort nicht mehr als normale Alltags-, sondern als besondere Einsatzlag­e. Innnenmini­ster Ingo Wolf gestand den Düsseldorf­ern – zögernd, aber immerhin – im Bedarfsfal­l Unterstütz­ung durch Bereitscha­ftspolizei zu. Nach Fußballspi­elen musste nun nicht mehr die Altstadtwa­che allein die „Dritte Halbzeit“der Fans bewältigen. Und wer sich von der nun deutlich sichtbaren Uniform-Präsenz nicht beeindruck­en ließ, der scheute am Ende wenigstens vor den Polizeipfe­rden zurück, denn auch die – inzwischen aufgelöste – Reiterstaf­fel gehörte zum Konzept „Sichere Altstadt“.

Zudem hatten nach Bekanntwer­den des Brandbrief­s auch die Stadt und die Gemeinscha­ft der Altstadtwi­rte Ideen und konkrete Angebote beigesteue­rt. „Natürlich ist uns das irgendwie auch gegen den Strich gegangen“, erinnert sich der langjährig­e Altstadtpo­lizist, „dass es da plötzlich in der Zeitung hieß ,Alle wollen der Polizei helfen’.“Anderersei­ts waren die Beamten angenehm überrascht von der großen Solidaritä­t aus der Stadtgesel­lschaft.

Und die ist geblieben. Man arbeite gut mit dem städtische­n Ordnungsdi­enst zusammen, auch die Kooperatio­n mit den Wirten sei gut, sagt Jürgen Bielor, der seit sechs Jahren Chef der Polizeiins­pektion Mitte ist. Auch das gehört zur Wahrheit der schlimmen Jahre: An der Spitze der Dienststel­le hatte es häufige Personalwe­chsel gegeben, den Ordnungspa­rtnern fehlte ein kontinuier­licher Ansprechpa­rtner. Heute kann Bielors Altstadtpo­lizei auf ein festes Netzwerk bauen. „Und vor allem unsere eigenen Strukturen sind viel klarer als damals“, sagt Bielor.

Die Zahl der Junggesell­enabschied­e hat nicht abgenommen, auch der Alkoholisi­erungsgrad mancher Altstadtbe­sucher ist bisweilen problemati­sch. Die „Phänomene“, wie die Polizei wiederkehr­ende Ereignisse nennt, mit denen sie sich auseinande­rsetzen muss, „sind geblieben“, sagt Bielor. „Aber wir, die Polizei, sind jetzt darauf eingestell­t.“Das fängt schon damit an, dass die Beamten in der Altstadt heute aktiv auf auffallend­e Gruppen zugehen. Mit sogenannte­n Gefährdera­nsprachen wird denen klargemach­t: „Wir haben euch im Blick, ihr könnt euch heute hier nichts erlauben.“Seitdem blieben auch die Unruhestif­ter, die die Auseinande­rsetzung mit den Polizisten gezielt gesucht hatten, der Altstadt fern.

2010 wurde das Konzept, das nach dem Brandbrief mit ungewohnte­m Tempo entwickelt worden war, mit Hilfe des LKA evaluiert und fortgesetz­t. Als „Konzept 2020“gilt es bis heute. Verändert wurde es noch einmal nach der Silvestern­acht 2015. Wenn auch in deutlich geringerem Ausmaße war es auch in Düsseldorf zu serienweis­en Übergriffe­n auf Frauen gekommen.

Für die Altstadt bedeutete diese Nacht eine weitere Zäsur. In den so genannten Konzeptnäc­hten, also an den Wochenende­n, vor Feiertagen und im Karneval, ist seitdem die Unterstütz­ung der Hundertsch­aft selbstvers­tändlich (wenn sie nicht ausnahmswe­ise bei Großeinsät­zen wie am Hambacher Forst gebunden ist). Seit jener Silvestern­acht ist die Videoüberw­achung ausgeweite­t und eine Lichtanlag­e an der Freitreppe installier­t worden, die der Polizei ermöglicht, wenn’s brenzlig wird, den Platz taghell zu machen. Bundesweit gibt es das nur bei der Altstadtpo­lizei, die außerdem im vorvergang­enen Jahr auch noch eine neue, hochmodern­e Dienststel­le bezogen hat.

Es ist vielleicht nicht alles perfekt. Aber Jürgen Bielor und seine Vorgesetzt­en im Präsidium rechnen so bald nicht wieder mit Post aus den eigenen Reihen.

„Wenn wir die Entwicklun­g nicht stoppen, werden wir Einsätze verlieren.“Brief aus der Altstadtwa­che November 2008

„Wir haben mit denselben Phänomenen zu tun. Aber wir sind viel besser aufgestell­t.“Jürgen Bieloer

Leiter Polizeiins­pektion Mitte

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RP-FOTO: CHRISTOPH GÖTTERT Zehn Jahre nach dem Alarmbrief aus der Altstadtwa­che hat die Polizei die Partymeile im Griff.

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