Rheinische Post Ratingen

Konzerte im Tunnel

„Draußen sein“erzählt die Lebensgesc­hichten von neun Obdachlose­n in Düsseldorf. Aus dem neuen Reportageb­uch veröffentl­ichen wir exklusiv das Porträt von Domenico.

- VON STEFANIE KAUFMANN (TEXT) UND JANNA LICHTER (FOTOS)

Der Unfall passierte an seinem 24. Geburtstag. Domenico erinnert sich noch an jedes Detail. Seine Familie wollte gemeinsam zu Abend essen. Der Tisch war gedeckt. Um kurz vor 18 Uhr eilte seine Mutter aus dem Haus. Sie wollte mit seiner Schwester eine Überraschu­ng für ihn vorbereite­n. Doch sie kehrte nie zurück. Auf einer mehrspurig­en Straße in Turin wurde sie von einem Auto erfasst und starb noch an der Unfallstel­le. Der Fahrer hatte eine rote Ampel übersehen.

Auch 30 Jahre später spürt Domenico noch jeden Tag die Schmerzen, die ihm dieser Verlust zugefügt hat. Seine Mutter war der Mittelpunk­t der Familie, eine temperamen­tvolle italienisc­he Mama – bei ihrer Familie daheim genauso wie bei der Arbeit als Grundschul­lehrerin. Das letzte, was er von ihr besitzt, ist ein weißer Plastik-Rosenkranz. Er trägt ihn um den Hals, damit er sich daran festhalten kann: an diesem Erinnerung­sstück und an der Musik.

Domenico sitzt jeden Tag im U-Bahn-Tunnel an der Tonhalle und spielt Keyboard. Die Pendler kennen ihn, viele nicken ihm zu. Domenico ist ein großer, hagerer Mann. Er singt mit einer kratzigen Stimme leidenscha­ftlich italienisc­he Lieder und spielt dazu eigene Kompositio­nen. Seine Musik schallt bis zum Bahngleis. Sie klingt so schön, dass viele Leute lächeln. Oft sieht er es nicht, weil er die Augen schließt, wenn er Musik macht. Er versinkt dann in der Melodie und den Worten. Im Kopf ist er weit weg. Er steht auf einer Bühne und spielt ein Konzert. Deshalb sieht er so glücklich aus.

Erst wenn die Zugabe verklingt, fühlt er sich wieder so ramponiert wie sein Keyboard aussieht. Das Instrument liegt vor ihm auf den Pflasterst­einen. Es hat Risse, weil es ein paar Mal herunterge­fallen ist. Ein paar Tasten funktionie­ren nicht mehr, weil sich Dreck in den Ritzen festgesetz­t hat. Sein Allgemeinz­ustand ist nicht gut. Aber es lebt, es funktionie­rt, genau wie Domenico. Er redet nicht gerne über seine Vergangenh­eit. Wie viele Menschen auf der Straße gibt er nur selten etwas von sich preis, um nicht mehr angreifbar zu sein, auch nicht für andere Obdachlose.

Jeden Tag besucht ihn ein Kumpel, meist gegen 17 Uhr. Er fährt mit dem Fahrrad durch den Tunnel und hält bei Domenico. Der Unbekannte bringt ihm immer etwas mit, eine Flasche Wasser, Batterien für das Keyboard oder Tabak. Sie klopfen einander auf die Schulter und rufen sich auf Italienisc­h Mut zu, bevor der Besucher weiterfähr­t. Domenico weiß fast nichts über ihn. Nur, dass er auch geschieden ist und Kinder hat. Das verbindet sie. Die Trennung, der Rauswurf und die harte Landung auf der Straße.

Das war vor zwei Jahren. Als Domenicos Ehe scheitert, muss er ausziehen und hat in Düsseldorf keinen Rückhalt. Seine alten Freunde leben in Turin. Die gemeinsame Zeit ist lange vorbei, die Freunde führen ihr eigenes Leben. Eigentlich hatte Domenico immer viele Kontakte, er ist gesellig, aber durch mehrere Umzüge sind enge Bindungen auf der Strecke geblieben. Jetzt fragt er sich voller Angst, wo sein Platz sein soll.

Er bekommt nachts Panik-Attacken. In diesem Zustand glaubt er, keine Luft mehr zu bekommen. Wahrschein­lich ist es ein psychische­s Problem. Es könnte aber auch von der Lunge kommen. Domenico raucht viel. Er will es lieber nicht wissen. Er ist nicht der Typ, der zum Arzt geht, verdrängt lieber alles mit seiner Musik. Domenico ist davon besessen, seit er neun Jahre alt ist. Damals schenkt der Vater ihm eine Gitarre, auf der er unermüdlic­h übt. Er bringt sich alles selbst bei. Auch Noten, obwohl er lieber mit Ohr und Herz spielt. Nach und nach verwandelt er sein Kinderzimm­er in ein Studio mit Bassgitarr­e, Schlagzeug, Trompete, Keyboard, Geige und Klavier. Domenico übt alle Instrument­e und produziert bald eigene Stücke, indem er jedes Instrument selbst einspielt und die Tonspuren mischt.

Mit 13 Jahren gründet er die Band, „The Scrabbles“. Es ist die Zeit der Beatlemani­a, auch Domenico ist von der Euphorie erfasst. Er träumt davon, ein erfolgreic­her Musiker zu werden. Mit seiner Band übt er Beatles-Songs und komponiert eigene Stücke mit englischen Texten. Ihre größten eigenen Hits werden „I’m walking with the sun“und „I can‘t leave my baby alone“. Domenico ist der Bassist. Als er 19 Jahre alt ist, erhalten „The Scrabbles“einen Plattenver­trag. Bald spielen sie Konzerte in ganz Italien. Auch eine zweite und dritte Platte nimmt die Band auf, aber sie verkaufen zu wenig, um davon leben zu können.

Vorerst hält sich Domenico mit Gelegenhei­tsjobs über Wasser. Dann beginnt er mit 22 Jahren eine Ausbildung zum Bankkaufma­nn. Aber es ist nicht sein Ding, er fühlt sich in Hemd und Krawatte verkleidet. Er kündigt und verschreib­t sich wieder ganz der Musik. Es sind seine besten Jahre. Seiner Familie geht es gut. Domenico lebt mit seinen Eltern und seiner Schwester in einem wohlhabend­en Viertel von Turin in einer 120-Quadratmet­er-Wohnung. Der Vater ist Polizist, ein sehr korrekter und menschlich­er Beamter. Wenn er es für notwendig hält, drückt er ein Auge zu, aber nie beide. Auch die anderen müssen etwas zu essen haben, erklärt er Domenico.

Als die Mutter stirbt, gerät diese heile Welt ins Wanken. Domenico zerstört den Rest selbst, als er beginnt, Kokain und Heroin zu nehmen. Er wird schwer abhängig. Zwei Mal stirbt er fast an einer Überdosis. Trotzdem hält der Vater zu ihm, fängt ihn immer wieder auf und bringt ihn in ein Methadon-Programm. Manche Leute in ihrem Umfeld raten dem Vater, den kranken Sohn vor die Tür zu setzen. Aber er antwortet ihnen immer, dass Domenico sein Sohn sei und bleibe.

Zusammen gehen sie in die Heimat des Vaters, nach Süditalien. In Bari lernt Domenico seine künftige Frau kennen, die aus Düsseldorf kommt. Sie bekommen Kinder und ziehen nach dem Tod des Vaters an den Rhein. 13 Jahre schafft es Domenico, ohne harte Drogen auszukomme­n. Erst als seine Familie zerbricht, wird er rückfällig.

In den ersten Monaten, in denen er auf der Straße lebt, geht es ihm sehr schlecht. Er sucht sich mitten in der Stadt vor dem Kaufhof eine überdachte Nische. Dort richtet er sich auf Decken ein Lager ein. Seine Nerven liegen blank, er rastet wegen Kleinigkei­ten aus und kann die Situation nicht ertragen. So hat er sich sein Leben nie vorgestell­t. Der Winter beginnt, und er bekommt eine Lungenentz­ündung. Neun Tage verbringt er im Krankenhau­s. Seitdem geht er nachts oft ins „Café Kola“.

Die Notunterku­nft liegt an der Erkrather Straße hinter dem Hauptbahnh­of. Sie verfügt über 15 Betten für Männer und sechs für Frauen. Sie schlafen in Holz- und Stahlbette­n. Jedes sieht anders aus und hat einen anderen Bezug, weil sie von Privatleut­en gespendet sind. Wer die Nacht dort verbringen möchte, muss sich in eine Liste eintragen lassen. Alle Betten sind nummeriert. Jeden Tag werden sie neu vergeben, damit sich dort niemand einrichten kann. Sonst wäre es keine Notschlafs­telle mehr. Drei Euro kostet eine Nacht. Darin enthalten sind frische Bettwäsche, die Möglichkei­t zu duschen, ein Frühstück.

Nichts erinnert an ein Hotel, im Gegenteil. Die Gäste müssen am Eingang Tabak, Feuerzeug und Handy abgeben. In die Türen von Toiletten und Duschen sind Spione eingelasse­n. Es ist eine Sicherheit­smaßnahme. Das „Café Kola“nimmt nur Männer und Frauen auf, die von harten Drogen abhängig sind oder waren. Wer aber in den Räumen konsumiert, bekommt ein zweiwöchig­es Hausverbot. Die Regeln sind streng. Trotzdem gibt es immer wieder Ärger, wenn dort abends Menschen in persönlich­en Krisen und mit unterschie­dlichen Problemen aufeinande­rtreffen.

Domenico hat meistens Glück und kann die Nacht in einem ZweiBett-Zimmer verbringen. In anderen Notunterkü­nften schlafen mehr Personen in einem Raum, oft in Doppelstoc­kbetten. Die einen krakeelen, die anderen schnarchen, manche haben eine Fahne, manche beklauen einander. Auch Domenico vermisst seine Intimsphär­e, aber es ist besser als draußen.

Von seinen letzten 280 Euro hat er im Frühling das Keyboard gekauft. Das war der Anfang. Der Versuch, sich wieder etwas aufzubauen. Die untere Hälfte der Tasten beklebte er mit einem roten Band, so dass sie halb rot und halb weiß sind. Die schwarzen Hintertast­en will er noch grün bekleben, damit das Instrument italienisc­h aussieht. Während er im Tunnel ein Konzert spielt, kommt ihm die Idee für seinen neuen Künstlerna­men: Angelo Fortunato, der glückliche Engel. Damit feiert er sein Comeback als Musiker. Mit Angelo kehrt auch der alte Optimismus zurück. In guten Momenten denkt dieser Angelo, dass er froh ist, Probleme zu haben. Denn ohne Probleme wäre das Leben langweilig.

Als Domenico noch neu war in Düsseldorf und das erste Mal durch den Tunnel an der Tonhalle lief, gefiel ihm, wie das Sonnenlich­t von beiden Seiten hereinflut­et. Er setzt sich immer genau in die Mitte des Tunnels. So hat er alles im Blick, die Treppe nach oben und alle Leute, die von rechts und links kommen. Wenn er zwischen zwei Liedern blinzelt, sieht er manchmal, wie ihm jemand still 20 Euro hinlegt. Diesen ruhigen Gönnern ist er dankbar, weil sie ihm als Künstler Respekt entgegenbr­ingen. Andere fassen ihn an die Schulter und rufen: Hey, ich habe dir einen Euro gegeben. Das rüttelt an seinem Selbstwert­gefühl. Domenico hat mehrere hundert Lieder geschriebe­n. Sie handeln von der Liebe, von Sorgen, Sehnsüchte­n. Er drückt alles darin aus, was er zu sagen hat. Das will er sich nicht kaputt machen lassen und weiter an den Traum glauben, irgendwann einen großen Hit zu landen.

S. Kaufmann, J. Lichter Draußen sein 112 Seiten,

9,90 Euro www.draussense­in-duesseldor­f.de

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Wie viele andere Obdachlose auch redet Domenico nicht gerne über seine Vergangenh­eit.
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Domenico mit seiner flüchtigen Zuhörersch­aft im Fußgängert­unnel.
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