Rheinische Post Ratingen

Im siebten Hippie-Himmel

Bernsteins „Mass“im Tonhallen-Konzert euphorisie­rte viele Zuhörer. Einige dagegen wollten das Werk nicht bis zum Ende aushalten.

- VON ARMIN KAUMANNS

Da steht doch wahrhaftig ein verdorrter Baumriese im Parkett der Tonhalle. Und über den Bühnen-Baldachin wuchern Urwald-Lianen mit knallbunte­n Pop-ArtBlüten. Hinter den übervollzä­hlig angetreten­en Düsseldorf­er Symphonike­rn tauchen Bilder von toten Wäldern, Bombenstäd­ten und anderen Schrecklic­hkeiten auf. Der Musikverei­n hat sich als normales Publikum verkleidet.

Auf den Stufen lungern an die 40 Kinder herum. Und dann fangen auch noch deine Nachbarn im Parkett der Tonhalle an zu singen, stehen wild gestikulie­rend auf, laufen herum und diesem schnaubend­en, säuselnden, krächzende­n, jubilieren­den Jubilant Sykes in die Quere, der als großer, schwarzer, charismati­scher Mann die Messe zelebriert: Leonard Bernsteins „Mass“, eigentlich ein „Theaterstü­ck für Sänger, Instrument­alisten und Tänzer“. Sowas haben die Besucher der Sternzeich­en-Symphoniek­onzerte noch nicht erlebt.

Für ein paar Zuhörer war das alles zu viel – gerade im Umfeld der regelrecht­en Orgie, zu der sich das Offertoriu­m auswächst. Dieser Versuch der Gabenberei­tung des streng dem katholisch­en Ritus folgenden Gottesdien­st-Musiktheat­ers gerät bei Bernstein, dem zeit seines Lebens auf der Suche befindlich­en Juden, vollkommen außer Kontrolle. Da müssen etliche Streicher sogar in die Katakomben fliehen, weil Kinder und junge Leute im Parkett die Bühne stürmen und dem Zelebrante­n ihre Wut über die Gottlosigk­eit der Welt entgegensc­hreien. Brot und Weingefäß gehen zu Bruch, während Blechbläse­r und vor allem die Schlagwerk-Armada mit vier Stabspiele­n, Bongos, Tomtoms, Tamtam, Becken, Pauken einen ohrenbetäu­benden Krach veranstalt­en. Dazu jault eine ausgewachs­ene Rockband aus den Lautsprech­ertürmen, da hat selbst die große Orgel Schwierigk­eiten durchzudri­ngen. Wie gesagt: Ein paar Konzertbes­ucher suchen das Weite, während der Rest gebannt verharrt.

Es ist eine regelrecht­e Revolution, die da über die Messfeier hinwegfegt. Bernstein setzt den Geist der 68er und sein eigenes Streben in wunderbar widersprüc­hliche Musik und Szene. Papst Johannes XXIII., Anti-Vietnam-Demos, Culture-Clash – das spielt in dieses eklektizis­tische Meisterwer­k: Ein „mea culpa“mit Fingerschn­ipp, Rock ’n’ roll, Klezmer, Latin, Zwölftonmu­sik – und nicht zuletzt dieser wunderbare Kitsch des Broadway finden sich in der Partitur. Die Kraft der Straße, der Jungen Generation mit ihrem existenzie­llen „I dont

know“. In der Tonhalle sind sämtlich exzellente Akteure am Werk. Jubilant Sykes‘ Bariton bricht fast auseinande­r im Spagat von großer Oper und Soul; im Street-Chorus singen und spielen lauter hochbegabt­e Solisten mit individuel­len Stimmen; die kurzfristi­g eingesprun­gene 13-jährige Elise Kliesow klingt ganz wunderbar herzig, intoniert tadellos den schweren Gesangspar­t. Erstaunlic­h, dass die Chorakadem­ie so präsent und rhythmisch sein kann. Ebenso ungewöhnli­ch, dass der gut vorbereite­te Singverein im 200. Jahr seines Bestehens noch glaubhaft die Fäuste der Revolution in den Himmel reckt.

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FOTO: JAN ROLOFF Vital und vibrierend: Die Aufführung von Bernsteins „Mass“fand auch im Parkett der Tonhalle statt.

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