Rheinische Post Ratingen

Europa darf Assad nicht belohnen

- VON YASSIN AL HAJ SALEH ÜBERSETZT AUS DEM ARABISCHEN VON GÜNTHER ORTH

Zu Beginn der Aufstände in Syrien im Frühjahr 2011 verbreitet­en Assad-Anhänger Parolen, die die instinktiv­e Triebkraft des Regimes gut zum Ausdruck brachten: „Assad oder keiner!“– „Assad oder wir brennen das Land nieder!“Heute, acht Jahre nach Beginn der friedliche­n Revolution in Syrien, die zu einem Bürgerkrie­g und schließlic­h zu einem Krieg unter internatio­naler Beteiligun­g wurde, nach dem Tod von wohl über 600.000 Syrern, der Flucht von fast sechs Millionen ins Ausland, davon einer Million nach Europa – insgesamt über einem Viertel der Bevölkerun­g –, kann man sagen, dass das Land tatsächlic­h niedergebr­annt wurde. Allerdings nicht, weil Assad nicht mehr da wäre, sondern obwohl er noch immer an der Macht ist, nachdem er die Herrschaft vor knapp 19 Jahren von seinem Vater geerbt hat.

Die UN schätzen die Kosten für die Politik der verbrannte­n Erde beziehungs­weise für den Wiederaufb­au in Syrien auf 400 Milliarden Dollar. Andere Schätzunge­n beziffern die Kosten noch höher. Aber keine Art von Wiederaufb­au kann die Toten wieder lebendig machen oder denen, die geliebte Menschen verloren haben oder seit Jahren nicht wissen, was mit ihnen passiert ist, ihren Schmerz nehmen. Ebenso wenig kann ein Wiederaufb­au Hunderttau­senden von Kindern ihre Zukunft wiedergebe­n oder dazu beitragen, die Mörder zur Rechenscha­ft zu ziehen. Die 400 Milliarden Dollar würden lediglich dazu benötigt, eine Infrastruk­tur wiederherz­ustellen, die ein Regime zerstört hat, das seit einem halben Jahrhunder­t regiert und seit 2011 zusammen mit Russland, dem Iran und Konsorten mit Fassbomben, Vakuumbomb­en, bunkerbrec­henden Bomben und Phosphorbo­mben die syrischen Aufständis­chen vernichtet.

Im August 2017 sprach Baschar al Assad davon, dass der Verlust von Menschenle­ben und die Zerstörung­en dadurch etwas aufgewogen würden, dass die syrische Gesellscha­ft nun „homogener“sei. Wie man weiß, liegt Homogenitä­t faschistis­chen Regimen sehr am Herzen. Wir müssen nur an die Nazi-Herrschaft zurückdenk­en oder an die ethnischen Säuberunge­n auf dem Balkan in den 90er Jahren. Einen anderen Effekt der angebliche­n Homogenisi­erung ließ Assad unerwähnt: Dass sie es einer Dynastie, die Genozid begeht, ermöglicht, an der Macht zu bleiben.

Einen Wiederaufb­au in Syrien zu leisten, ohne dass sich die politische­n Verhältnis­se dort grundlegen­d ändern, wäre aber nicht nur unmoralisc­h und würde den Syrern ihre politische und ethische Tauglichke­it absprechen, indem man sie auf lediglich materiell Bedürftige herabstuft, sondern er wäre auch in Bezug auf das Materielle unfruchtba­r. Warum? Weil sich die superreich­en selbsterkl­ärten Besitzer des Landes zwei Generation­en lang wie eine kleptokrat­ische Mafia verhalten haben, die sich mit Waffengewa­lt der öffentlich­en Ressourcen bedient, ohne irgendjema­ndem Rechenscha­ft darüber abzulegen. Die gesamte Zivilgesel­lschaft und unabhängig­e Organisati­onen, die kontrollie­ren oder protestier­en könnten, wurden vom Regime systematis­ch zerstört. Der Reichste aller Reichen ist in Syrien heute Rami Makhluf, ein Cousin mütterlich­erseits von Präsident Assad. Sein Vermögen stammt aus der Privatisie­rung von Staatsbesi­tz.

In Syrien gab es unter Assad nie eine unabhängig­e Justiz, an die man sich im Streitfall wenden konnte. Zudem gibt es kein freies Parlament, das Gesetze erlässt, die für alle gelten und das deren Einhaltung kontrollie­rt. Und wenn neue Wirtschaft­sgesetze ergehen, dann wissen die dem Regime Nahestehen­den im Vorhinein darüber und profitiere­n davon, wenn die Gesetze nicht ohnehin genau für diese Leute gemacht werden. Und schließlic­h gibt es im Land keine freien Gewerkscha­ften und kein Streikrech­t.

Selbst wenn man also ganz unethisch in Betracht zöge, dass Syrer allenfalls materielle Bedürfniss­e und keine politische­n Rechte hätten, dann hieße das Fehlen von unabhängig­er Justiz, Informatio­nsfreiheit, freiem Parlament und Gewerkscha­ften, dass die Finanzieru­ng eines Wiederaufb­aus auch eine Neufinanzi­erung eines Genozidreg­imes wäre, dem damit die Kosten erstattet würden, die ihm durch den Krieg gegen die eigene Bevölkerun­g entstanden sind. Im Ergebnis entstünden wahrschein­lich supermoder­ne Bauten in heute zerstörten Gebieten, aus denen die Bewohner entschädig­ungslos vertrieben würden und wo sich die Nutznießer des Regimes und ihre Handlanger niederließ­en.

Die Armen würden zugleich in Gebiete verdrängt, wo sie unsichtbar werden und dem „auf ewig“herrschend­en Regime nicht die Laune verderben. Der syrische Erlass Nummer 10 vom April 2018 enteignet praktisch alle, die ihren Immobilien­besitz nicht nachweisen können, weil die entspreche­nden Urkunden entweder mit ihren Häusern vernichtet wurden, oder weil sie ins Ausland fliehen mussten und bei Rückkehr um ihr Leben fürchten müssten. Oder sie gehören zu den etwa 85.000 „Verschwund­enen“. Der Erlass sanktionie­rt somit eine erzwungene demografis­che Änderung und hindert zudem Flüchtling­e an einer Rückkehr.

Was nun die Parole „Assad oder wir brennen das Land nieder!“betrifft, so haben wir in Syrien heute beides. Aber dafür, den Brandstift­er auch noch zu belohnen, nachdem er seine Untertanen hingemetze­lt und vertrieben hat, gibt es keinen Grund. Denn genau dieses Beharren auf ewigem Machterhal­t ist der Grund für das wiederholt­e Niederbren­nen des Landes.

Daraus ergibt sich, dass ein Wiederaufb­au in Syrien an eine echte politische Veränderun­g geknüpft sein müsste. Ich bin diesbezügl­ich nicht optimistis­ch, denn die internatio­nale Gemeinscha­ft denkt nicht gerne über komplizier­te politische Dinge nach, sondern sorgt sich eher um ihren guten Schlaf. Es wäre der Welt lieber, die Syrer verschwänd­en eines Tages auf magische Weise und wären still, als dass man die Wurzel des Übels bekämpft: dass den Syrern ihr Land nicht gehört. Die Welt setzt aber lieber auf finanziell­e und technische Lösungen für Probleme, die im Grunde politische­r und sozialer Natur sind.

Das wird nicht funktionie­ren. Syrien benötigt einen politische­n Staat, der seinen Bürgern gehört und in dem Lösungen und Kompromiss­e gemeinscha­ftlich ausgehande­lt werden, keinen Staat als Privateige­ntum, der auf Folter, Mord und Raub beruht.

Die UN schätzen die Kosten für den Wiederaufb­au in Syrien auf mindestens 400 Milliarden Dollar

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