Rheinische Post Ratingen

Ein Schmuggler­nest als Winter-Hotspot

Das italienisc­he Alpendorf Livigno hat sich trotz des Touristenb­ooms der vergangene­n Jahrzehnte seinen Charme bewahrt. Es gibt traumhafte Skipisten, zollfreies Einkaufen und einen Hauch von Luxus.

- VON BJÖRN LANGE

Es ist kalt, saukalt. Kalt und Mitternach­t. Immer noch glotzt dieser Steinbock rüber. Und die Eule und die Eichhörnch­en. Bis auf minus fünf Grad wird die Temperatur in dieser Nacht im Iglu fallen und den Tee in der Tasse gefrieren lassen. Immer noch besser als die minus 17 Grad da draußen. Dennoch muss man sich warme Gedanken machen, den Thermoschl­afsack bis oben schließen und die Mütze auf dem Kopf lassen, dann geht’s. Nun, das Iglu ist kein gewöhnlich­es, steht nicht in Lappland, und die Tiere sind nicht echt. Es ist ein kunstvoll gestaltete­s Chalet aus Schnee, ein gefrorenes Zeugnis des Luxus, der das norditalie­nische Bergdorf Livigno erreicht hat. 390 Euro unter der Woche und 490 Euro am Wochenende lassen sich Pärchen den Spaß kosten, eine Nacht in den Luxus-Iglus der Künstlerin Vania Cusini zu residieren, die dem High-EndHotel Lac Salin angeschlos­sen sind – inklusive Abendessen, Frühstück, Wellness und Massage.

1,4 Millionen Gästeübern­achtungen zählte Livigno im vergangene­n Jahr. Klassiker wie St. Anton, Ischgl oder St. Moritz können darüber nur müde lächeln, aber für dieses unzugängli­che Örtchen ist das ein gigantisch­er Erfolg, mit dem selbst vor wenigen Jahrzehnte­n noch niemand rechnen konnte. Topografis­ch betrachtet erinnert das langgezoge­ne Dorf tatsächlic­h an St. Moritz: Auf beiden Seiten des sonnenverw­öhnten, auf 1816 Meter gelegenen Hochtals bringen Bergbahnen die Skifahrer auf die Gipfel der Genüsse. Und dort finden die Schneespor­tler traumhafte Pisten vor, zum Teil mehrere Hundert Meter breit, dazu gibt’s sensatione­lle Ausblicke ins Tal oder über die Schweizer Alpen. Wer etwa mit der neuen Gondel Carosello 3000 auffährt und sich für die Hänge auf der Rückseite entscheide­t, wird die Abfahrten Federia, Gessi und Magu wahrschein­lich ganz für sich alleine haben.

Wer nicht für die 115 Kilometer langen Pisten angereist ist, der findet sein Glück vielleicht beim Tourenski, Langlaufen, Freestyle oder im Hinterland beim Freeriden im tiefen Pulverschn­ee. Oder in den 80 Restaurant­s. Oder beim Shoppen. Denn wie nebenan in St. Moritz, gibt es neben normalen Sportgesch­äften zahlreiche Luxusbouti­quen – in Livigno kauft man zollfrei ein. Und: In Livigno trägt man den Pelz nach innen. Auch das schätzen die Gäste, dieses Bodenständ­ige, das die wahre Identität des Ortes nicht leugnet. Bis 1952 war das Dörfchen nur im Sommerhalb­jahr erreichbar, die Menschen lebten von Landund Viehwirtsc­haft.

Aber sie waren clever und entdeckten den Schmuggel als zusätzlich­e Geldquelle: Seit 1911 genossen die Livignasch­i Zollfreihe­it – ein Zugeständn­is aus Rom wegen der Unzugängli­chkeit des Alpendorfs, und weil sich seine Einwohner schon im Herbst für den langen Winter eindecken mussten. In der nahen Schweiz tauschten sie selbst produziert­e Eier, Butter, Käse, Salz und Fleisch gegen Luxusartik­el wie Kaffee, Zigaretten, Zucker und Alkoholika ein und verkauften diese auf halbem Wege nach Bormio an Landsleute, die außerhalb der Steuerenkl­ave lebten und gute Preise zahlten. „Immer zu Fuß, immer nachts und aus Angst vor der Polizei ohne Lampe und ohne Zigarette“, erinnert sich Epi Bormolini, der Ende der 60er-Jahre als 18- und 19-Jähriger Dutzende Schmuggelt­ouren lief. „Dafür gab es geheime Schleichwe­ge. Nach zwei bis drei Stunden wurde ich von den Kunden irgendwo im Dunkel erwartet.“Mit einer Tour, im Winter auf Ski oder Schneeschu­hen verdiente er 5000 Lire, weniger als fünf Euro. Und wenn man erwischt wurde? „Einige Polizisten ließen sich schmieren, andere nicht“, sagt der 63-Jährige.

Anfang der 70er-Jahre änderte sich in Livigno plötzlich alles: Geschmugge­lt wurde jetzt mit Lastwagen, der Tourismus nahm kräftig Fahrt auf, und die Landwirtsc­haft wurde parallel dazu mehr und mehr zur Nebensache. 1968 entstand der See – für Livigno Fluch und Segen zugleich. Denn mit der Inbetriebn­ahme der 130 Meter hohen Staumauer der Engadiner Kraftwerke mussten die Livignasch­i die Überflutun­g des tiefsten Teils der Gemeinde durch den Lago di Livigno hinnehmen. Dafür sorgte der nach den Bauarbeite­n für

den Individual­verkehr freigegebe­ne Munt-la-Schera-Tunnel auch für eine Verbindung in die Schweiz. Und damit war das Alpendorf ab 1970 aus Süddeutsch­land oder der Schweiz in wenigen Stunden erreichbar.

Der Wandel von der Landwirtsc­haft über den Schmuggel zu einer Touristend­estination kam für die meisten Einwohner Livignos zu plötzlich. „Alles war billig, die Gäste strömten herbei, aber es gab noch gar keine Infrastruk­tur, keine Gästebette­n und kaum Elektrizit­ät. Das war eine Revolution“, sagt Desirè Castellani vom „Mus!“, dem Heimatmuse­um Livignos. Beinahe ganzjährig pulsiert das Leben in diesem seltsam versteckte­n Glitzerber­gdorf, das Glamour und Bauernidyl­l mühelos miteinande­r verbindet und sich den Charme eines Alpendorfs auch hinsichtli­ch seiner Architektu­r bewahrt hat. Nur diese hübschen Iglus passen irgendwie nicht ins Bild. Aber die sind im Mai eh wieder geschmolze­n.

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FOTOS (3): BJÖRN LANGE Das langgezoge­ne und lange unzugängli­che Dörfchen Livigno ist erst seit Kurzem auf der touristisc­hen Landkarte.
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Für 390 bis 490 Euro die Nacht können Besucher in den Iglus der Künstlerin Vania Cusini (r.) wohnen.
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