Rheinische Post Ratingen

Russische Autorin schreibt die Geschichte ihrer Familie

- VON CLAUS CLEMENS

Der Titel dieses Romans ist die Ankündigun­g einer Unschärfe. Mit ihrem 500-Seiten-Buch „Nach dem Gedächtnis“arbeitete die russische Autorin Maria Stepanova die Vergangenh­eit ihrer Familie auf. Aber sie weiß nicht, ob sie denen, die es geschafft haben, die Schrecken des 20. Jahrhunder­ts zu überleben, wirklich gerecht wurde. Anfang der 90er Jahre war ihre jüdische Familie aus Moskau nach Deutschlan­d ausgewande­rt. Maria aber beschloss, auf eigene Faust in ihr Geburtslan­d zurückzuke­hren. Dort lebt sie heute als Dichterin, Chefredakt­eurin einer Internetze­itschrift und demnächst Preisträge­rin des „NOS“-Preises. Die Abkürzung steht für „Neue Wortkunst“. Eine angemessen­e Ehrung, wie ihr Kollege Durs Grünbein findet. Er hat sich von dem Roman begeistern lassen und stellte Buch und Autorin jetzt im Heine-Haus vor.

„In Berlin haben wir das Gleiche im Deutschen Theater gemacht. Unter den Gästen waren dort mindestens drei Viertel Russen. Davon gehen wir hier nicht aus“, berichtete Grünbein zu Beginn des Abends. Hilfestell­ung leistete deshalb Irina Bondas, deren Virtuositä­t in der Simultanun­d Konsekutiv­übersetzun­g allein den Besuch der Veranstalt­ung lohnte. Im Übrigen aber ging es sehr viel um Erinnerung, um die Skepsis, mit der Maria Stepanova sich die Vergangenh­eit zu eigen macht. Gestört hat sie vor allem ihre „Zudringlic­hkeit gegenüber den Toten“, von denen meist nur ein paar vergilbte Fotos und banale Gegenständ­e übrigblieb­en. Unter anderem die Glacéhands­chuhe ihrer Urgroßmutt­er Sara Ginsburg, die 1907 nach Paris zum Medizinstu­dium an die Sorbonne ging und als der Paradiesvo­gel der Familie galt.

Sie hatte das Zeug zu einer illustren Persönlich­keit in ihrem Heimatland, doch nach der Oktoberrev­olution tauchte sie lieber in der Masse unter. Stepanova: „Das hat meine Urgroßmutt­er Sara auf gewisse Weise gerettet. Denn viele ihrer Freunde wurden umgebracht, verbannt oder verschwand­en für immer.“Eine permanente Wachsamkei­t gegenüber der russischen Obrigkeit gilt auch noch für die Urenkelin. Aber: „Man darf nicht versuchen, sich vorauseile­nd richtig zu benehmen. Solch ein Versuch wird deine Persönlich­keit verbiegen, dich von innen heraus töten.“

Im heutigen Russland unter Putin, so die Dichterin, ist die Bereitscha­ft gering, sich den finsteren Kapiteln der eigenen Geschichte zuzuwenden. Ihr Land leide nicht an dem einen Trauma wie Deutschlan­d, sondern dort ginge ein Trauma in ein anderes über.

Ihre Oma, das Paradiesvo­gel der Familie, tauchte in der Masse unter

Info Maria Stepanova: „Nach dem Gedächtnis“. Suhrkamp, 527 S., 24 Euro.

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