Rheinische Post Ratingen

Das falsche Kriterium

- VON MARC LATSCH

Immer mehr Abiturient­en beenden ihre Schullaufb­ahn mit einer Eins vor dem Komma. Die Lehrergewe­rkschaft GEW findet das gut. Es zeige den Ehrgeiz der jungen Menschen. Der Deutsche Hochschulv­erband findet das schlecht. Es zeige, wie die Anforderun­gen verwässert­en. Dass sich beide Ansichten vertreten lassen, zeigt vor allem eins: Niemand weiß wirklich, was die Noten zu bedeuten haben.

Das wäre halb so schlimm, hätten wir kein föderales Bildungssy­stem. Der Anteil der Einser-Abiturient­en ist in Thüringen mehr als doppelt so hoch wie in Schleswig-Holstein. Es ist unwahrsche­inlich, dass die Thüringer Schüler auch mehr als doppelt so schlau sind. Da ist es naheliegen­d, das System zu vereinheit­lichen. Gleiche Abiturprüf­ungen für alle. Gleiche Karrierech­ancen für alle.

Das mag helfen, es schafft aber auch Probleme. Nur weil alle die gleichen Abiturprüf­ungen schreiben, werden nicht alle gleich gut darauf vorbereite­t. Die Qualität der Schulen und der Lehrer entscheide­t dann, wie schwer es ist, Bestnoten zu schreiben.

Eine wirkliche Lösung wäre es, dem Numerus clausus die Macht zu nehmen. Knapp die Hälfte der deutschen Studienplä­tze wird nach Abiturnote vergeben. Es ist schlicht nicht verständli­ch, warum nur Einser-Abiturient­en Ärzte oder Anwälte werden können. Vor allem dann, wenn unklar ist, was ihre sehr guten Noten aussagen.

Es wird auch in Zukunft Studiengän­ge geben, in denen nicht jeder einen Platz bekommen kann. Weil die Nachfrage die Kapazitäte­n übersteigt. Aber dann, liebe Universitä­ten, gebt euch doch etwas mehr Mühe. Führt Vorstellun­gsgespräch­e. Findet heraus, wer wirklich für sein Wunschfach brennt. Schreibt meinetwege­n Aufnahmete­sts. Aber vertraut nicht auf Abiturnote­n. Sie sagen zu wenig aus.

BERICHT INFLATION BEIM EINSER-ABITUR, TITELSEITE

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