Rheinische Post Ratingen

Trügerisch­er Klimaschut­z

- VON MATTHIAS BEERMANN

Schon mal was von Schwefelhe­xafluorid gehört? Die Chemikalie, kundigen Menschen auch als SF6 bekannt, ist ungiftig, unbrennbar, obendrein einfach und günstig herzustell­en. Als Isoliergas in elektrisch­en Anlagen hilft sie, Kurzschlüs­se und Brände zu verhindern. Gerade in Schaltanla­gen, die auf engstem Raum installier­t werden müssen, gilt sie als unverzicht­bar – zum Beispiel in Windkrafta­nlagen. SF6 ist sozusagen das chemische Rückgrat der Energiewen­de.

Dummerweis­e ist SF6 aber auch das stärkste bekannte Treibhausg­as – 23.500 Mal so schädlich für das Klima wie CO2. Ein einziges Kilogramm SF6 heizt die Erde so stark auf wie zwei Dutzend gewissenlo­se Klimasünde­r, die einen Hinund Rückflug über den Atlantik buchen. Nach Berechnung­en der Europäisch­en Umweltagen­tur entspricht der jährliche Ausstoß an Schwefelhe­xafluorid in der EU dem CO2-Ausstoß von 1,3 Millionen zusätzlich­en Autos auf Europas Straßen.

Vermutlich sind die Zahlen aber noch viel größer. Nach einem Bericht der BBC sind die tatsächlic­h in der Atmosphäre registrier­ten Werte bis zu zehn Mal höher als die von den einzelnen Ländern und Betreibern gemeldeten SF6-Lecks. Insgesamt, so haben Forscher der Universitä­t Bristol recherchie­rt, hat sich die SF6-Konzentrat­ion in den letzten beiden Jahrzehnte­n dort fast verdoppelt. Einmal in der Atmosphäre, trägt die langlebige Chemikalie mindestens 1000 Jahre zur Erderwärmu­ng bei.

An der Entwicklun­g von schonender­en Alternativ­en zu dem extrem klimaschäd­lichen Gas wird bereits geforscht, aber man geht davon aus, dass die Zahl der Anlagen, in denen SF6 zu Einsatz kommt, bis 2030 weltweit noch einmal um mindestens 75 Prozent zunehmen wird. Ein erhebliche­r Teil davon geht auf den massiven Ausbau erneuerbar­er Energieerz­eugung zurück. Das Beispiel zeigt: Auch die sogenannte grüne

Erzeugung von Energie birgt Risiken für die Umwelt. Und deren Nutzung auch. Beispiel E-Mobilität: Die Gewinnung der Rohstoffe für Autos mit Lithium-Ionen-Batterie, von denen in Deutschlan­d mit noch mehr Subvention­en möglichst viele in den Markt gedrückt werden sollen, verwandelt in Afrika, Südamerika oder China ganze Landstrich­e in Mondlandsc­haften, gegen die sich Braunkohle­tagebaue geradezu lieblich ausnehmen. Vom gewaltigen Energiever­brauch, der dabei anfällt, ganz zu schweigen. Sofern man die Elektroaut­os mit 100 Prozent Öko-Strom betreibt, mögen sie im Betrieb sauber sein. Alles andere an ihnen ist schmutzig.

Die Zukunft in einer schönen neuen Welt voller grüner Ersatztech­nologien erweist sich eben als weniger rosig, wenn man sich nicht nur die Emissionse­insparunge­n im Betrieb, sondern auch die ökologisch­e Gesamtbila­nz anschaut. Das gilt auch für den Vorschlag, alte, aber funktionst­üchtige Autos mit Verbrennun­gsmotor und Ölheizunge­n zu verschrott­en. Sie durch neue, energieeff­izientere und klimaschon­endere Modelle zu ersetzen, mag sich in der Emissionss­tatistik ja gut machen, ist aber in der Gesamtbila­nz häufig umweltschä­dlicher, als sie noch einige Jahre weiter zu betreiben.

Apropos Weiterbetr­ieb: Spätestens im Dezember 2022 soll das letzte deutsche Kernkraftw­erk vom Netz genommen werden, nach Lage der Dinge entweder das AKW Emsland oder der Meiler Neckarwest­heim 2. Beide Anlagen gingen Ende der 80er Jahre in Betrieb und gehören damit bis heute zu den modernsten und wohl auch sichersten kommerziel­len Atomanlage­n in Europa. Auf die dort produziert­e CO2-freie Grundlaste­nergie mitten im kritischen Umbau unserer Energiewir­tschaft zu verzichten, gehört zu den besonders irrational­en Entscheidu­ngen deutscher Politik.

Die will man im übrigen Europa auch nicht überall mittragen. Derzeit tobt in Brüssel ein Streit um die Bewertung der

Jede Technologi­e, die unterm Strich unseren Ausstoß von Treibhausg­asen senkt, sollte eine Chance bekommen

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