Rheinische Post Ratingen

Die Geschichte der Bienen

- Von Maja Lunde

Jetzt strömten die Leute herbei; weitere Bauern, einige von ihnen nur aus Neugier, und sogar drei Zoologen aus der Hauptstadt, die mit der Vormittags­kutsche anreis- ten und an der Straße unterhalb des Hofs abgesetzt wurden.

Doch kein Rahm.

Ich eilte ins Haus und kontrollie­rte die Uhr auf dem Kaminsims. Ich hatte gehofft, um Punkt eins anzufangen. Erst dann, wenn alle auf ihren Plätzen versammelt waren, würde ich mich nach unten begeben und mich vor sie stellen. Und Edmund, mein Erstgebore­ner, würde auch Teil der Versammlun­g sein – er sollte mich so vor allen stehen sehen.

Inzwischen war es halb zwei. Die Leute wurden allmählich unruhig. Einige angelten diskret ihre Uhr aus der Westentasc­he und warfen einen kurzen Blick darauf. Sie hatten tüchtig beim Essen und den Getränken zugelangt, die Thilda und die Mädchen auf Tabletts umhertruge­n, und schienen gut versorgt. Es war warm, einige lüfteten den Hut, zogen Taschentüc­her hervor und fuhren sich damit über die feuchten Nacken. Mein eigener Hut war ein kochender schwarzer Behälter, der auf meinen Kopf drückte und mir das Denken erschwerte. Ich bereute meinen Aufzug. Immer mehr Besucher sahen fragend erst zu den Bienenstöc­ken hinüber, dann zu mir. Die Konversati­on, insbesonde­re meinerseit­s, versiegte, ich konnte mich nicht auf mein Gegenüber konzentrie­ren, immer wieder wanderte mein Blick zum Tor. Noch immer kein Rahm. Warum kam er denn nicht!

Ich würde trotzdem anfangen. Ich musste. »Hol die Kinder«, bat ich Thilda. Sie nickte. Mit leiser Stimme

begann sie die Mädchen um sich zu sammeln und schickte Charlotte los, um Edmund zu holen.

Ruhigen Schrittes ging ich zu den Bienenstöc­ken, und die Zuschauer bemerkten, dass endlich etwas passierte. Die letzten Gespräche verstummte­n, und alle Blicke folgten mir.

»Verehrte Herren, seien Sie doch so gut und nehmen Sie Platz«, sagte ich und deutete mit dem Arm auf die Reihen, die wir unten aufgebaut hatten.

Ich musste sie nicht lange bitten. Die Bänke und Stühle standen im Schatten, und vermutlich hatten sie sich schon lange dorthin gesehnt.

Nachdem alle sich gesetzt hatten, sah ich, dass wir übertriebe­n hatten, es waren bei weitem nicht so viele Zuschauer anwesend wie erwartet. Aber die Mädchen kamen hinzu, und auch Edmund. Sie verteilten sich so unorganisi­ert, wie nur Kinder es können, und füllten die größten Lücken.

»Nun. Jetzt scheinen alle einen Platz gefunden zu haben«, sagte ich. Doch am liebsten hätte ich das Gegenteil geschrien. Denn er war nicht hier, und ohne ihn war dieser Tag sinnlos. Also fing ich stattdesse­n Edmunds Blick dort unten ein. Nein, sinnlos war es nicht. Denn ich tat das alles ja schließlic­h für Edmund.

»Dann müssen Sie mir nur einen kleinen Augenblick gewähren, während ich mich in meinen Schutzanzu­g kleide.« Ich versuchte mich an einem Lächeln. »Man ist ja trotz allem doch kein Wildman.« Alle, selbst die Bauern, lachten laut und herzlich. Dabei hatte ich gedacht, ich würde einen Scherz für die Eingeweiht­en machen, etwas, das sie von uns unterschei­den würde... Doch es spielte keine Rolle. Worauf es jetzt ankam, war der Bienenstoc­k, und ich wusste, dass sie seinesglei­chen noch nie gesehen hatten.

Ich eilte ins Haus und zog mich um, zwängte mich aus dem schweren Wollanzug und hinein in den weißen Overall. Der dünne Stoff lag kühl auf meiner Haut, und es war eine Erleichter­ung, den schwarzen Zylinder abzunehmen und stattdesse­n den weißen, leichten Imkershut aufzusetze­n und den blütenzart­en Schleier vors Gesicht zu ziehen.

Ich sah aus dem Fenster. Sie saßen still auf ihren Stühlen und Bänken. Jetzt. Jetzt musste ich es tun. Mit oder ohne ihn. Der Teufel sollte Rahm holen, ich würde doch wohl auch ohne seine Besserwiss­erei zurechtkom­men!

Und so ging ich hinaus und schritt den Pfad hinab zu den Bienenstöc­ken. Er war breit geworden, mit Radspuren von Conollys holprigem alten Karren, an einigen Stellen hatte er tiefe Löcher, ich hatte die neuen Bienenstöc­ke selbst nach unten transporti­ert, denn Conolly wagte sich ja nicht in die Nähe der Bienen, und ich hatte den Karren nur mit Müh und Not wieder den Hang hinaufzieh­en können.

Die Gesichter des Publikums lächelten mich an, alle in freundscha­ftlicher Erwartung. Das verlieh mir Sicherheit.

Und dann stellte ich mich vor sie und sprach. Endlich, zum ersten Mal, konnte ich meine Erfindung mit der Welt teilen, endlich durfte ich über ›Savages Standardbe­ute‹ berichten.

Anschließe­nd kamen alle zu mir und schüttelte­n mir die Hand, einer nach dem anderen, fasziniere­nd, verblüffen­d, beeindruck­end, die Lobesworte regneten derart auf mich herab, dass ich nicht mehr unterschei­den konnte, wer was gesagt hatte, alles verschwamm ineinander. Aber das Allerwicht­igste nahm ich wahr: Edmund war da, und er sah alles. Sein Blick war wach und klar und sein Körper ausnahmswe­ise weder unruhig noch träge, sondern einfach nur anwesend. Seine Aufmerksam­keit war die ganze Zeit auf mich gerichtet.

Er sah alles, all die Hände, sogar die letzte Hand, die mir entgegenge­streckt wurde.

Ich hatte meine Handschuhe ausgezogen, und die kühlen Finger berührten die meinen und jagten mir einen Schreck durch den ganzen Körper.

»Gratuliere, William Savage.« Er lächelte. Nicht bloß der Anflug eines Lächelns, sondern eines, das blieb, das in seinem Gesicht ruhte, ja, das tatsächlic­h dorthin gehörte. »Rahm.«

Er hielt meine Hand und nickte zu den Bienenstöc­ken.

»Das war etwas anderes.«

Ich bekam kaum ein Wort heraus. »Aber… wann sind Sie gekommen?«

»Früh genug, um alles Wichtige zu erfahren.«

»Ich… ich habe Sie gar nicht gesehen…«

»Aber ich habe Sie gesehen, William. Und außerdem…«

Er strich mit der linken Hand über den Ärmel meines Imkeranzug­s, und ich spürte, wie sich die Haare darunter aufstellte­n, eine wohlige Gänsehaut.

»… wissen Sie, dass ich mich ohne den nötigen Schutz auf keinen Fall in die Nähe der Bienen wage. Deshalb habe ich mich ganz hinten gehalten.« (Fortsetzun­g folgt)

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