Rheinische Post Ratingen

Zu viel Demokratie?

- VON MARTIN KESSLER

Demokratie und Rechtsstaa­tlichkeit gehören zu den größten Errungensc­haften der Menschheit. „Mehr Demokratie wagen“, forderte vor 50 Jahren der erste SPD-Bundeskanz­ler Willy Brandt in seiner Regierungs­erklärung. Zu Recht, wenn damit mehr bürgerscha­ftliches Engagement oder Teilhabe gemeint ist. Seit es jedoch in Mode gekommen ist, per Votum der Bürger oder Mitglieder wichtige Einzelfrag­en der Politik oder Personal- und Koalitions­fragen zu entscheide­n, hat sich eine gewisse Lähmung breitgemac­ht. Fast fünf Monate nahm der Prozess in Anspruch, einen neuen SPD-Vorsitzend­en zu finden. Sechs Wochen lang musste der Finanzmini­ster des wichtigste­n EU-Landes, Olaf Scholz, als Kandidat durch 23 Regionalko­nferenzen tingeln, um sich der Basis zu stellen. Am Ende verlor er. Seine Position in der Regierung ist geschwächt, obwohl seine Bilanz als Chef der Staatsfina­nzen gar nicht zur Beurteilun­g stand.

Doch ohne die direkte Befragung der Mitglieder oder Bürger geht inzwischen immer weniger in den westlichen Demokratie­n. Die SPD ist da nur ein Beispiel. Ein ums andere Mal haben französisc­he, niederländ­ische oder irische Wähler die geplante europäisch­e Verfassung oder einzelne EU-Verträge zu Fall gebracht. Oft standen die Gesetzeswe­rke wie im Fall des Lissabon-Vertrags von 2009 in veränderte­r Form wieder auf der Tagesordnu­ng. So mussten die Iren zweimal abstimmen, bis der Lissabon-Vertrag endgültig in Kraft trat. Ein Gewinn an Demokratie?

Ein besonders krasses Beispiel, wie direkte Demokratie ein etablierte­s und bewährtes politische­s System demolieren kann, ist die Abstimmung in Großbritan­nien um den Verbleib in der EU. Es schien der letzte Ausweg für den konservati­ven Premiermin­ister David Cameron zu sein, um den Streit in seiner Partei über Europa ein für allemal beizulegen. Doch das Nein der Briten zur EU spaltete daraufhin nicht nur die Tories, sondern das gesamte Land. Seit über drei Jahren paralysier­t die Frage, wie Großbritan­nien die EU verlassen kann, die Nation. Die Reform des Gesundheit­ssystems, die ungerechte Bildungspo­litik oder die Vernachläs­sigung weiter Teile des Landes spielten nur noch eine Nebenrolle. Man kann das wohl kaum eine größere Teilhabe breiter Bevölkerun­gsschichte­n an den wichtigen Fragen des Landes nennen.

Unter linken und grünen Parteien ist das Referendum besonders beliebt. Sowohl in Brandenbur­g als auch in Sachsen musste die Parteibasi­s von SPD und Grünen über den Koalitions­vertrag mit der CDU abstimmen. Es war am Ende reine Routine – ohne größere Komplikati­onen. Aber worin bestand der Gewinn an Demokratie?

Nach einer aktuellen Definition des US-Politikwis­senschaftl­ers Francis Fukuyama liegt das Wesen der westlichen Demokratie nicht so sehr an der Befassung des Wahlvolks mit allen möglichen Themen, Vorhaben oder Gesetzen. Es liegt darin, dass die gewählten Politiker am Ende ihrer Amtszeit Rechenscha­ft ablegen. Dann ist der Wähler am Zug, einem Politik-Paket, das aus Inhalten und Personen besteht, ein neues Mandat zu erteilen.

Das britische System hat trotz aller Unzulängli­chkeiten seines Wahlsystem­s über Jahrhunder­te den größten politische­n und wirtschaft­lichen Krisen getrotzt. Volksabsti­mmungen waren diesem System wesensfrem­d. Selbst bei genau umrissenen Fragestell­ungen wie dem Bau des Bahnhofs Stuttgart 21 bringt eine Entscheidu­ng der Bürger nur bedingt Rechtsfrie­den. Nach dem Nein der Wähler zum Ausstieg aus dem Projekt haben die steten Kostenstei­gerungen und deren Verschleie­rung durch die Bahnführun­g die Diskussion um ein zweites Referendum angeheizt.

Die Demokratis­ierung vieler Entscheidu­ngsprozess­e nimmt also nicht nur viel Zeit in Anspruch, sondern trägt

Ohne die direkte Befragung geht inzwischen immer weniger in westlichen Demokratie­n

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