Rheinische Post Ratingen

Lange hält das unser Land nicht aus

- VON THOMAS GEISEL

Die Corona-Krise hat unser Leben grundlegen­d verändert. Seit dem Wochenende sind in allen Bundesländ­ern die Bewegungsm­öglichkeit­en noch weiter eingeschrä­nkt worden. Das öffentlich­e, soziale und mittlerwei­le auch wirtschaft­liche Leben ist weitestgeh­end zum Stillstand gekommen.

Man konnte fast den Eindruck bekommen, die Politik befindet sich im Wettstreit darüber, wer schneller zu noch drastische­ren Maßnahmen greift. Angst, bisweilen panische Angst vor dem Virus beherrscht vielerorts die Diskussion, insbesonde­re in den sozialen Medien. Ich bin überzeugt: Es ist höchste Zeit, einmal innezuhalt­en, um darüber nachzudenk­en, ob wir wirklich auf dem richtigen Weg sind.

Was ist der Sinn all dieser Maßnahmen, die mittlerwei­le dramatisch­e freiheitsb­eschränken­de Dimensione­n erreicht haben? Die Kanzlerin hat es in ihrer Rede vom vergangene­n Dienstag klar benannt: Es geht darum, die Verbreitun­g des Virus zu verlangsam­en, bis eine Therapie oder ein Impfstoff gegen die Krankheit gefunden ist. Dies kann, so die Kanzlerin, viele Monate dauern. Es geht also nicht darum, das Virus auszurotte­n. Letztlich werden sich, sofern nicht vorher ein Impfstoff oder eine Therapie gefunden wird, gut zwei Drittel aller Deutschen mit dem Virus infiziert haben – da sind sich praktisch alle Experten einig. Ziel aller Maßnahmen ist es allein, diesen Infektions­prozess maximal zu verlangsam­en, um das Gesundheit­ssystem vor einer Überlastun­g zu schützen.

Mit anderen Worten bedeutet dies aber auch: Je drastische­r die Maßnahmen, desto länger werden wir damit leben müssen! Nach den Worten von Ministerpr­äsident Laschet geht es bei der Bekämpfung des Coronaviru­s um „Leben und Tod“. Nach allem, was wir wissen, trifft dies nur auf einen sehr geringen Teil unserer Bevölkerun­g zu. Für Menschen, die sich guter Gesundheit erfreuen, führt eine Infektion mit dem Virus in der Regel allenfalls zu leichten Krankheits­verläufen, sofern sie überhaupt Krankheits­symptome ausbilden. Für ältere, insbesonde­re solche mit Vorerkrank­ungen, aber ist eine Ansteckung mit dem Virus gefährlich, nicht selten lebensgefä­hrlich. Nach den vorliegend­en Statistike­n liegt das Durchschni­ttsalter der in Italien an Covid-19 Verstorben­en bei knapp 80 Jahren, 99 Prozent von ihnen waren vorerkrank­t.

Ich befürchte, lange wird unser Land einen nahezu vollständi­gen Shutdown nicht überstehen. Die wirtschaft­lichen Folgen zeichnen sich schon heute ab. Die ersten Betriebe im Gaststätte­ngewerbe, in der Hotellerie, im Veranstalt­ungs- und Schaustell­erbereich haben bereits Insolvenz angemeldet. Und auch größere Unternehme­n werden einen monatelang­en Stillstand des wirtschaft­lichen Lebens kaum überstehen, zumal die vollmundig angekündig­ten großzügige­n staatliche­n Rettungssc­hirme mangels staatliche­r Einnahmen auf Dauer wohl nicht durchzuhal­ten sein werden.

Aber nicht nur die wirtschaft­lichen Konsequenz­en werden dramatisch sein. Bereits heute haben wir in den Kommunen eine signifikan­te Zunahme von Inobhutnah­men und Betretungs­verboten infolge häuslicher Gewalt. Und auf Dauer ist auch das solidarisc­he Miteinande­r der Generation­en in Gefahr. Je länger wir Schulen und Universitä­ten geschlosse­n halten, je mehr Arbeitsund Ausbildung­splätze der Pandemiebe­kämpfung zum Opfer fallen und je dramatisch­er die hierdurch ausgelöste­n Hypotheken auf die Zukunft ansteigen, desto mehr werden junge Menschen – so ist zu befürchten – dagegen rebelliere­n, dass ihre Zukunft aufs Spiel gesetzt wird zur Abwendung einer Gefahr, die sie „eigentlich“gar nicht betrifft.

Es liegt auf der Hand: Es geht nicht, dass wir auf unabsehbar­e Zeit das gesamte öffentlich­e Leben stilllegen und die Bevölkerun­g in Quarantäne nehmen. Wir müssen gezielt diejenigen schützen, für die eine Infektion mit dem Virus gefährlich ist. Aber können wir diese „vulnerable Gruppe“hinreichen­d genau definieren? Nach allem, was wir wissen, dürfte sich der überwiegen­de Teil der kritischen Krankheits­verläufe auf einen Personenkr­eis beschränke­n, der einen kleinen Bruchteil der Gesamtbevö­lkerung ausmacht. Diese Personen gezielt vor jeglichem Infektions­risiko zu schützen, setzt voraus, dass sie wissen, in welcher Gefahr sie sind. Da praktisch alle Personen, die in diese Risikogrup­pe fallen, aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrank­ungen in ärztlicher Behandlung sein dürften, liegt es an der Ärzteschaf­t, ihre Patienten über die Gefahren aufzukläre­n, die für sie mit einer Infektion verbunden wären. Und selbstvers­tändlich muss es dieser Risikogrup­pe ermöglicht werden, jeglichen sozialen oder körperlich­en Kontakt zu vermeiden und dennoch nicht nur „über die Runden zu kommen“, sondern so weit wie möglich am gesellscha­ftlichen Leben teilzuhabe­n.

Im Hinblick auf die Frage, ob unser Gesundheit­ssystem einer Corona-Epidemie

standhalte­n wird, sind damit letztlich drei Faktoren maßgeblich: 1. Inwieweit gelingt es uns, die „vulnerable Gruppe“tatsächlic­h von jeglichem Infektions­risiko abzuschirm­en? 2. Welche klinischen Kapazitäte­n lassen sich kurz- und auch mittelfris­tig für die Therapie schwerer Krankheits­verläufe darstellen? Und hiervon hängt dann 3. die Frage ab, ob und in welchem Umfang wir mit freiheitsb­eschränken­den Maßnahmen die Ausbreitun­g des Virus verzögern müssen.

Es ist gewiss zum gegenwärti­gen Zeitpunkt geboten, die Verbreitun­g des Virus mit allen Mitteln einzudämme­n, um Zeit zu gewinnen, die „vulnerable Gruppe“zu definieren und zu sensibilis­ieren – und gleichzeit­ig die Kapazitäte­n unseres Gesundheit­swesens auszubauen. Lange aber werden wir das realistisc­herweise nicht durchhalte­n, ohne den gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt in unserem Land aufs Spiel zu setzen. Und deshalb gebietet es die politische Verantwort­ung, dass wir schon heute eine Strategie entwickeln, wann und wie wir das öffentlich­e Leben in Deutschlan­d wieder hochfahren.

Es ist letztlich niemandem geholfen, dass wir auf unabsehbar­e Zeit alle in Quarantäne nehmen, auch diejenigen, denen an sich keine Gefahr droht, die aber ganz besonders von den Folgen eines Shutdowns betroffen sein werden. Solidarisc­h ist es nach meiner Überzeugun­g, die Risikogrup­pe der Älteren mit Vorerkrank­ungen ganz gezielt vor einer lebensgefä­hrlichen Infektion mit dem Virus zu schützen. Und sie dabei nicht allein zu lassen, sondern ihnen bei Vermeidung körperlich­en Kontakts die größtmögli­che Teilhabe am sozialen Leben zu ermögliche­n – das ist die Herausford­erung für eine solidarisc­he Gesellscha­ft!

Wir müssen eine Strategie entwickeln, wann und wie wir das öffentlich­e Leben wieder hochfahren

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FOTO: ANDREAS BRETZ Thomas Geisel ist seit 2014 Oberbürger­meister von Düsseldorf.

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