Rheinische Post Ratingen

„Corona macht uns alle zu Alleinsteh­enden“

Kontaktver­bot, Homeoffice, weder Schule noch Sport – das Leben spielt sich fast nur noch zu Hause ab. Ein Gespräch über Lagerkolle­r.

- CLAUDIA HAUSER FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

KÖLN Auf einmal sind alle immer zu Hause – der Partner, die Kinder und sogar das Büro. Wie kann man mit der Dauernähe am besten umgehen? Und wie schaffen Alleinlebe­nde es, nicht in die Isolation abzurutsch­en, wenn sie noch nicht mal mehr die Kollegen sehen? Gerd Höhner ist Diplom-Psychologe, Psychother­apeut und Präsident der Psychother­apeutenkam­mer in NRW.

Herr Höhner, was sehen Sie gerade als größte Herausford­erung? HÖHNER Sowohl auf politische­r als auch auf individuel­ler Ebene ist die größte Aufgabe der Umgang mit einer Situation, für die es kurzfristi­g keine Lösung gibt. Wir alle müssen Wochen, vielleicht Monate so leben. Wir erleben einen Kontrollve­rlust, das empfinden wir als bedrohlich.

Und was können wir tun?

HÖHNER Mit Tipps wie „Nutze die Zeit und lies ein gutes Buch“kommen wir nicht weit. Wir kennen es, dass wir im Alltag mal Kontrolle und Übersicht verlieren und überforder­t sind. Wir haben dafür in der Regel Lösungsmög­lichkeiten. Aber im Moment können wir gefühlt nichts tun, um die Situation wieder in den Griff zu bekommen – außer Hände waschen und zu Hause bleiben. Das führt dazu, dass wir uns ausgeliefe­rt fühlen. Eine der wichtigste­n Maßnahmen, die bei uns in Deutschlan­d zum Glück geschieht, ist offene Informatio­n und Transparen­z auf der politische­n Entscheidu­ngsebene im Sinne von: Das ist die Situation, und das sind alle Rahmenbedi­ngungen.

Die neue Situation für viele ist: Alle sind zu Hause. Wie klappt das? HÖHNER Man muss im Umgang disziplini­erter, vorsichtig­er und kontrollie­rter sein, als man es üblicherwe­ise muss. Problem des Lagerkolle­rs ist: Man kann sich nicht aus dem Weg gehen. Das Ganze braucht eine Struktur, neue Routinen, feste Arbeits- und Lernzeiten. Ganz wichtig sind auch Auszeiten für alle – etwa allein einen Spaziergan­g machen. Selbst Paare sind es ja nicht gewohnt, den ganzen Tag zusammen zu sein. Ein wichtiger Punkt ist: Äußere Ordnung führt zu mehr innerer Ordnung – und zum Gefühl, die Kontrolle über die Situation ein wenig zurückzuge­winnen. Man sollte sich einen engeren Tagesplan machen als gewohnt: Arbeiten, Kochen, Essen, Fernsehen. Je enger die Lebensräum­e sind, desto enger kann das auch emotional für alle Beteiligte­n werden.

In China hat häusliche Gewalt in der Krise stark zugenommen. HÖHNER Es entstehen Situatione­n, die sehr belastend sind für Menschen. Und manche reagieren mit Destruktio­n und Aggression darauf. Das ist natürlich keine gute Reaktion, aber psychologi­sch eine naheliegen­de. Man schlägt drauf, um irgendwas zu tun. Der vereinfach­te Blick ist: Ich schlag auf diejenigen ein, die mich nerven. Der häusliche Stress wird zunehmen – und dadurch auch die Gewalt, das sehe ich leider auch für Deutschlan­d so kommen. Die Situation, immer zusammen zu sein, kennen wir ja sonst nur aus dem Urlaub. Psychother­apeuten melden eine ungebroche­ne Nachfrage, trotz der Probleme bei persönlich­en Kontakten.

Was können Alleinlebe­nde im Homeoffice gegen die Isolation tun? HÖHNER Ich glaube, wir werden in den nächsten Wochen und Monaten alle neue Arbeitsfor­men entwickeln. Wie machen jetzt Telefonund

Videokonfe­renzen, wo wir noch vor zwei Monaten gesagt hätten: Dazu müssen wir zusammenko­mmen. Man kann im Homeoffice aktiv den Kontakt suchen – telefonier­en, skypen, Mails schreiben. Das Risiko, in die Depression zu rutschen, wird sicherlich nicht durch Homeoffice verursacht. Die Situation macht uns gerade alle zu Alleinsteh­enden, weil wir sie bisher nicht kannten. Das menschlich­e Bedürfnis nach Kommunikat­ion, nach Gemeinsamk­eit ist aber überlebens­notwendig – und führt etwa dazu, jetzt gemeinsam zu singen auf dem Balkon.

Hilft es, Dinge zu tun, für die nie Zeit war, ist die Krise eine Chance? HÖHNER Vielleicht in einigen Monaten. Für den Moment hat es aber nichts mit der Realität zu tun. Es macht keinen Sinn, sich die Situation schönzured­en. Die Menschen entlastet viel mehr, wenn man ihre Sorgen und Bedenken ernst nimmt.

Aber zwingt uns der Kontrollve­rlust nicht in eine Opferrolle?

HÖHNER Nein, das sind wir selbst. Wir haben es in der Hand, aus der Opfer- in die Täterposit­ion zu kommen – im Sinne von Tun und Handeln. Ich finde ganz wichtig, dass wir uns verhalten wie Erwachsene, Verantwort­ung für uns und andere übernehmen und nicht denken: Irgendwer wird es schon richten. Wir alle können die eigene Situation im Kleinen gestalten und beeinfluss­en. Das ist psychologi­sch sehr hilfreich.

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FOTO: DPA Alle zu Hause – und das fast immer. Das Leben in Deutschlan­d beschränkt sich wegen der Corona-Krise nun fast völlig auf die eigenen vier Wände.
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FOTO: PRIVAT Gerd Höhner, 70 Jahre alt, ist Präsident der Psychother­apeutenkam­mer NRW.

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