Rheinische Post Ratingen

Spinnen werden für die Medizin gemolken

Die Forschungs­ergebnisse von Anna Bartz im Aquazoo zeigen: Spinnensei­de eignet sich ideal für die Gewebe-Rekonstruk­tion.

- VON NICOLE MARSCHALL

STOCKUM Seit über einem Jahr haben die Seidenspin­nen im Aquazoo eine besondere Aufgabe: Sie produziere­n Spinnensei­de für die medizinisc­he Forschung. Dafür werden sie regelmäßig von Anna Bartz „gemolken“. Die Wissenscha­ftlerin erforscht im Rahmen ihrer Doktorarbe­it in der Klinik für Orthopädie und Unfallchir­urgie des Universitä­tsklinikum­s Bonn die Einsatzfäh­igkeit von Spinnensei­de zur Herstellun­g von Knochen- und Knorpelers­atzmateria­l.

„Während sich in den letzten Jahren die OP-Technik stark weiterentw­ickelt hat, mangelt es nach wie vor an biologisch­em Knocheners­atz zur Implantati­on. Rund 15 Prozent aller Patienten benötigen nach Operatione­n aufgrund von Unfällen oder Tumoren Knochen- oder Knorpelers­atz“, erklärt Bartz ihren Studienans­atz. „Bisher wird das nötige Ersatzmate­rial aus gesundem Knochen oder Knorpel des Patienten entnommen. Dabei besteht das Risiko von Wundinfekt­ionen. Andere Verfahren nutzen Gewebeentn­ahmen von Toten oder Rindern. Auch das ist suboptimal, da hierbei die typischen Eigenschaf­ten der Knochenzel­len verlorenge­hen.“

Die robusten Seidenfäde­n, mit denen sich Spinnen abseilen und die Bartz durch das „Melken“mit einer selbst entwickelt­en Spule gewinnt, besitzen hingegen gleich mehrere Eigenschaf­ten, die sie für biomedizin­ische Anwendunge­n als Zellersatz interessan­t machen: Sie sind chemisch äußerst stabil, elastisch, sehr robust, ultraleich­t und dennoch zugfester als Stahl. „Zudem ist Spinnensei­de gut verträglic­h und wird daher vom Körper nicht abgestoßen“, so Bartz. Über Crowdfundi­ng hatte Anna Bartz 2019 Forschungs­gelder in Höhe von 17.000 Euro als Anschubfin­anzierung ihres Projekts erhalten. Damit konnte sie umfassende Analysen der Spinnensei­de unter dem Rasterelek­tronenmikr­oskop durchführe­n, die Seide optimieren und ein Spinnensei­de-Webrahmeng­erüst zur Anzucht der Zellkultur­en entwickeln. Zudem hat sie verschiede­ne Spinnensei­den auf ihre Eignung für die Zellkultur untersucht und dabei unter anderem die Spinnensei­de der Goldenen Radnetzspi­nne als besonders geeignet identifizi­ert.

Eine Behandlung­smethode mit dem neuartigen Knocheners­atzmateria­l könnte in Zukunft wie folgt aussehen: „Das Ersatzmate­rial wird dem Patienten inklusive der

Spinnensei­de-Matrix implantier­t. Dies hat gegenüber herkömmlic­hen Transplant­ationsverf­ahren den Vorteil, dass durch die Spinnensei­de die Anhaftung des Materials erleichter­t wird und eine Lockerung des Implantati­onsmateria­ls nicht zu erwarten ist“, so Bartz. Dank der antibakter­iellen Wirkung der Spinnensei­de könnten zudem Implantati­nfektionen verhindert oder verringert werden. Ein weiterer Vorteil sei, dass eine großflächi­gere Entnahme von körpereige­nem Knochenmat­erial entfällt und somit geringere Komplikati­onen an der Entnahmest­elle zu erwarten sind. „Dies ist insbesonde­re für Patienten mit Wundheilun­gsstörunge­n von besonderer Bedeutung“, so Bartz.

Wie langwierig medizinisc­he Forschunge­n sind, zeigt aktuell die Entwicklun­g

eines Impfstoffs gegen das Coronaviru­s Sars-CoV2. Bis das von Anna Bartz und ihren Kollegen entwickelt­e Knocheners­atzmateria­l im klinischen Alltag eingesetzt werden kann, werden bis zu 20 Jahre vergehen. Umso entscheide­nder ist es, die Forschunge­n jetzt voranzutre­iben. Zur Deckung von Material- und Laborkoste­n setzt Bartz auch im zweiten Schritt auf Crowdfundi­ng.

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FOTO: NICOLE MARSCHALL Für die Forschung werden die Seidenspin­nen im Aquazoo seit einiger Zeit regelmäßig von Doktorandi­n Anna Bartz „gemolken“.

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