Spinnen werden für die Medizin gemolken
Die Forschungsergebnisse von Anna Bartz im Aquazoo zeigen: Spinnenseide eignet sich ideal für die Gewebe-Rekonstruktion.
STOCKUM Seit über einem Jahr haben die Seidenspinnen im Aquazoo eine besondere Aufgabe: Sie produzieren Spinnenseide für die medizinische Forschung. Dafür werden sie regelmäßig von Anna Bartz „gemolken“. Die Wissenschaftlerin erforscht im Rahmen ihrer Doktorarbeit in der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie des Universitätsklinikums Bonn die Einsatzfähigkeit von Spinnenseide zur Herstellung von Knochen- und Knorpelersatzmaterial.
„Während sich in den letzten Jahren die OP-Technik stark weiterentwickelt hat, mangelt es nach wie vor an biologischem Knochenersatz zur Implantation. Rund 15 Prozent aller Patienten benötigen nach Operationen aufgrund von Unfällen oder Tumoren Knochen- oder Knorpelersatz“, erklärt Bartz ihren Studienansatz. „Bisher wird das nötige Ersatzmaterial aus gesundem Knochen oder Knorpel des Patienten entnommen. Dabei besteht das Risiko von Wundinfektionen. Andere Verfahren nutzen Gewebeentnahmen von Toten oder Rindern. Auch das ist suboptimal, da hierbei die typischen Eigenschaften der Knochenzellen verlorengehen.“
Die robusten Seidenfäden, mit denen sich Spinnen abseilen und die Bartz durch das „Melken“mit einer selbst entwickelten Spule gewinnt, besitzen hingegen gleich mehrere Eigenschaften, die sie für biomedizinische Anwendungen als Zellersatz interessant machen: Sie sind chemisch äußerst stabil, elastisch, sehr robust, ultraleicht und dennoch zugfester als Stahl. „Zudem ist Spinnenseide gut verträglich und wird daher vom Körper nicht abgestoßen“, so Bartz. Über Crowdfunding hatte Anna Bartz 2019 Forschungsgelder in Höhe von 17.000 Euro als Anschubfinanzierung ihres Projekts erhalten. Damit konnte sie umfassende Analysen der Spinnenseide unter dem Rasterelektronenmikroskop durchführen, die Seide optimieren und ein Spinnenseide-Webrahmengerüst zur Anzucht der Zellkulturen entwickeln. Zudem hat sie verschiedene Spinnenseiden auf ihre Eignung für die Zellkultur untersucht und dabei unter anderem die Spinnenseide der Goldenen Radnetzspinne als besonders geeignet identifiziert.
Eine Behandlungsmethode mit dem neuartigen Knochenersatzmaterial könnte in Zukunft wie folgt aussehen: „Das Ersatzmaterial wird dem Patienten inklusive der
Spinnenseide-Matrix implantiert. Dies hat gegenüber herkömmlichen Transplantationsverfahren den Vorteil, dass durch die Spinnenseide die Anhaftung des Materials erleichtert wird und eine Lockerung des Implantationsmaterials nicht zu erwarten ist“, so Bartz. Dank der antibakteriellen Wirkung der Spinnenseide könnten zudem Implantatinfektionen verhindert oder verringert werden. Ein weiterer Vorteil sei, dass eine großflächigere Entnahme von körpereigenem Knochenmaterial entfällt und somit geringere Komplikationen an der Entnahmestelle zu erwarten sind. „Dies ist insbesondere für Patienten mit Wundheilungsstörungen von besonderer Bedeutung“, so Bartz.
Wie langwierig medizinische Forschungen sind, zeigt aktuell die Entwicklung
eines Impfstoffs gegen das Coronavirus Sars-CoV2. Bis das von Anna Bartz und ihren Kollegen entwickelte Knochenersatzmaterial im klinischen Alltag eingesetzt werden kann, werden bis zu 20 Jahre vergehen. Umso entscheidender ist es, die Forschungen jetzt voranzutreiben. Zur Deckung von Material- und Laborkosten setzt Bartz auch im zweiten Schritt auf Crowdfunding.