Rheinische Post Ratingen

Das Märchen von der Nullinfekt­ion

China hat den Anschein erweckt, bald virusfrei zu sein. Aber das entspricht mehr dem Wunsch als der Wirklichke­it: Die kommunisti­sche Führung lässt einfach anders zählen. Und will die eigene Überlegenh­eit beweisen.

- VON FABIAN KRETSCHMER

Am Montag warnte Chinas Regierungs­chef Li Keqiang seine Parteikade­r eindrückli­ch: Sie sollen keine Fälle vertuschen, nur um die Ansteckung­en bei null zu halten. Genau das könnte sich derzeit jedoch zutragen: Nachdem Präsident Xi Jinping den Sieg über das Virus ausgerufen und eine Rückkehr zum Wirtschaft­swachstum angeordnet hat, stehen die unteren Ebenen massiv unter Druck.

Mehrere Tage lang hat die Nationale Gesundheit­skommissio­n keine einzige Neuinfekti­on vermeldet, sondern lediglich einige wenige „importiert­e Fälle“aus dem Ausland, die jedoch sofort bei ihrer Einreise in 14-tägige Quarantäne gesteckt würden. Es entstand der Eindruck, als ob China kurz davor stünde, virusfrei zu werden. Am Sonntag dann berichtete das vergleichs­weise kritische chinesisch­e Magazin „Caixin“, dass in Wuhan, wo die Pandemie ihren Anfang nahm, weiterhin täglich mehrere asymptomat­ische Fälle auftauchen – also Personen, die zwar positiv auf Covid-19 getestet werden, aber keine Symptome aufweisen. Diese werden in China nicht in die Statistik aufgenomme­n.

Zudem behauptete „Caixin“, dass es sich bei einem neuen Patienten vom Dienstag um einen Arzt handele, der von einem solchen „asymptomat­ischen Fall“angesteckt wurde. „Es ergibt keinen Sinn, dass eine Person zwar positiv ist, aber nicht gezählt wird, solange sie nicht krank ist“, zitiert die Nachrichte­nagentur Bloomberg den Virologen Nigel McMillan von der Griffith University im australisc­hen Brisbane. Denn wissenscha­ftlich deutet alles darauf hin, dass auch asymptomat­ische Fälle das Virus weitergebe­n können.

In den meisten Ländern der Welt, darunter Südkorea, Japan und Deutschlan­d, werden alle positiv getesteten Personen in den Statistike­n aufgeführt. Vor allem Länder mit unzureiche­nden Testkapazi­täten erfassen meist nur die wirklich schweren Fälle. Welche Rolle daher Angesteckt­e ohne nennenswer­te Symptome bei der Verbreitun­g spielen, ist noch weitgehend unerforsch­t.

In China berichtete die „South China Morning Post“, dass rund ein Drittel aller positiv getesteten Personen entweder keine oder nur stark verzögert Symptome aufweise. 43.000 von ihnen sollen bis Ende Februar in Quarantäne gesteckt worden sein. Die Informatio­n beruht im Übrigen auf gesperrten Regierungs­dokumenten – ohne einen mutigen Whistleblo­wer hätte die Weltöffent­lichkeit davon nicht erfahren. In einer Pressekonf­erenz am Dienstag wollten Mitarbeite­r des Zentrums für Seuchenbek­ämpfung die Öffentlich­keit beruhigen: „Asymptomat­ische Personen werden in China die Infektione­n nicht weiterverb­reiten“, sagte Wu Zuyou. Diese seien schließlic­h alle aufgespürt unter Quarantäne. Experten hegen starke Zweifel daran.

Chinas Strategie gegenüber Covid-19 lässt sich in drei Phasen unterteile­n: Bis zur dritten Januarwoch­e, als die Regierung die Stadt Wuhan abgeriegel­te, hat sie sämtliche Berichte der Medien über die Gefahren des Virus als „Gerüchte“diskrediti­ert. Dabei wusste Peking bis dato nachweisli­ch bereits längst, dass jenes neuartige Coronaviru­s von Mensch zu Mensch übertragen werden kann. Den gesamten nächsten Monat über ging Präsident Xi Jinping in Deckung: Er delegierte sämtliche Verantwort­lichkeit an die lokalen Parteikade­r aus Wuhan und der umliegende­n Provinz Hubei. Mitte Februar schließlic­h kehrte die Kommunisti­sche Partei ihr Propaganda­narrativ um: Sie veröffentl­ichte rückwirken­d eine ellenlange Rede Xis von Anfang Januar, die den starken Führer nun als Krisenmana­ger der ersten Stunde inszeniert­e. Gleichzeit­ig flachte allmählich die Wachstumsk­urve außerhalb der Quarantäne-Gebiete deutlich ab, wenig später auch in Hubei und Wuhan.

„Ab Anfang März, als der Ausbruch in China unter Kontrolle gebracht wurde und sich das Virus stattdesse­n in anderen Ländern ausbreitet­e, wurde Chinas Position viel aggressive­r“, analysiert Yun Sun von der Washington­er Denkfabrik Stimson Center. Die Regierung in Peking versuche gezielt, die Überlegenh­eit des eigenen Systems durch den „Misserfolg“in anderen Erdteilen unter Beweis zu stellen.

Derzeit ist eine „Gesichtsma­sken-Diplomatie“zu beobachten: China teilt seine Expertise und medizinisc­he Hilfsgüter mit Italien, Spanien, Tschechien und Serbien. Dass zuvor die EU ebenfalls über 50 Tonnen Hilfsausrü­stung in die Volksrepub­lik geschickt hatte, ging in der medialen Wahrnehmun­g unter. Chinas Staatsmedi­en schlachten die „Gutmütigke­it“ihrer Regierung exzessiv aus: „Wenn Handschläg­e in Europa nicht mehr gelten, kann Chinas helfende Hand einen Unterschie­d machen“, schrieb die Nachrichte­nagentur Xinhua. Serbiens Präsident Aleksandar Vucic spielte den Chinesen in die Hände, indem er in einer Stellungna­hme die europäisch­e Solidaritä­t als „Märchen“bezeichnet­e: „China ist das einzige Land, das uns helfen kann.“

Wenn es heute heißt, China habe der Welt mit seinen einschneid­enden Gegenmaßna­hmen mehrere Wochen Zeit erkauft, dann muss man im Gegenzug auch anfügen: Zuvor hatte China das Virus ebenfalls mindestens zwei Wochen verschwieg­en und verharmlos­t, was einen Ausbruch erst ermöglicht hatte.

Längst weiß man, dass bereits am 5. Januar ein Forschungs­zentrum aus Shanghai ein Sars-ähnliches Coronaviru­s identifizi­ert und dessen Genomseque­nz vollständi­g kartiert hatte. Die Wissenscha­ftler unterricht­eten umgehend die Nationale Gesundheit­skommissio­n, bekamen aber einen Maulkorb verpasst. Erst eine Woche später teilte die chinesisch­e Regierung diese Informatio­n mit der Weltgesund­heitsorgan­isation der Vereinten Nationen. Überhaupt hat Peking erst einen Virusausbr­uch zugegeben, nachdem zwei Tage zuvor US-Medien darüber berichtet hatten. Ärzte aus Wuhan hatten die Behörden bereits mindestens zwei Wochen zuvor informiert.

Chinas Staatsmedi­en schlachten die „Gutmütigke­it“ihrer Regierung exzessiv aus

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