Rheinische Post Ratingen

Nähe schaffen trotz Telefon

Kontakt nur per Anruf müsste Distanz schaffen – viele empfinden es anders.

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Es ist eine der vielen paradoxen Empfindung­en dieser Tage: Obwohl in vielen Familien der Kontakt zu den Eltern oder den Großeltern nur noch über das Telefon gehalten werden darf, stellt sich keine Entfremdun­g ein. Im Gegenteil: Viele fühlen sich aktuell stärker mit der älteren Generation verbunden als je zuvor. Das mag damit zu tun haben, dass man in Krisenzeit­en gewichtige­re Gespräche führt. Man teilt die Sorgen um das Wohl der Familie, hört mit neuem Interesse, wie die Älteren früher mit Krisen umgegangen sind. Und manchem fällt es gerade am Telefon leichter, Menschen aus der eigenen Familie zu sagen, wie wichtig sie sind. Wie unersetzba­r.

Vielleicht ist die Erklärung aber auch einfacher. Vielleicht liegt das paradoxe Distanz-Nähe-Gefühl auch schlicht daran, dass viele jetzt häufiger miteinande­r sprechen, regelmäßig­er, verbindlic­her. Vor der großen Zwangsents­chleunigun­g war das Telefonat mit den Großeltern für manche ja doch eher ein Pflichtanr­uf. Und weil man Pflichten gern aufschiebt, wurden die Abstände zwischen den Anrufen gerade bei den Menschen, die sich im eigenen Alltag getrieben fühlen, größer und größer. Dann schwindet das Verständni­s für die Lebensumst­ände des anderen. Die Jüngeren sind genervt von weltfremde­n Ratschläge­n der Älteren, die Älteren spüren die innere Eile und mangelnde echte Anteilnahm­e der Jüngeren und dehnen die Gespräche nach ihrem Zeitempfin­den aus.

Es wirkt leicht zynisch, wenn man in einer Krise, die viele Menschen das Leben kostet, nach positiven Effekten sucht. Es ist aber sinnvoll, Erfahrunge­n, die man gerade unter extremen Bedingunge­n macht, wahrzunehm­en und daraus zu lernen. Etwa, dass Regelmäßig­keit im Austausch mit Menschen, die einem etwas bedeuten, eine Qualität an sich ist.

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