Rheinische Post Ratingen

Massive Kritik an Geisels Corona-Vorstoß

Viele finden aber seine Forderung einer Exit-Strategie sinnvoll, darunter auch ein renommiert­er Mediziner.

- VON MARTIN KESSLER UND NICOLE LANGE

DÜSSELDORF Die Corona-Krise hat ihren Höhepunkt noch nicht überschrit­ten, da gibt es schon eine breite Front von Stimmen, die über die Zeit danach sprechen wollen. So verlangen in Berlin die Opposition­sparteien AfD, FDP, Linke und Grüne von der Bundesregi­erung ein Ausstiegss­zenario. Am ausführlic­hsten hat sich der Düsseldorf­er Oberbürger­meister Thomas Geisel (SPD) geäußert. In einem Gastbeitra­g, den unsere Redaktion am Mittwoch veröffentl­ichte, sprach sich das Stadtoberh­aupt dafür aus, inmitten der scharfen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronaviru­s einmal „innezuhalt­en und darüber nachzudenk­en, ob wir wirklich auf dem richtigen Weg sind“. Geisel wies vor allem auf die massiven wirtschaft­lichen und sozialen Folgen des derzeitige­n Corona-Kurses hin.

Die Reaktionen sind gespalten. Der oberste deutsche Gesundheit­sschützer, Bundesmini­ster Jens Spahn (CDU), erklärte am Mittwoch, man müsse unbedingt jetzt schon an die Zukunft denken – an die Zeit „nach Corona“. Der frühere Präsident des Bundesverf­assungsger­ichts, Hans-Jürgen Papier, macht sich Gedanken über die massive Einschränk­ung der Grundrecht­e. Zwar hält er die aktuellen Ausgangsbe­schränkung­en für „noch verfassung­sgemäß“, wie er in einem Interview mit der „Initiative Gesichter der Demokratie“sagte. Aber die Politik bewege sich in einem Spannungsf­eld zwischen dem Grundrecht der Freiheit der Person und dem Grundrecht auf Leben und Gesundheit. Hier gelte es die Verhältnis­mäßigkeit zu wahren. Die wäre verletzt, wenn sich „der Staat entschließ­en würde, nicht regional begrenzte und vor allem auch zeitlich nicht eng limitierte totale Ausgangssp­erren zu verhängen“. Das hatten zuletzt einige Hardliner am Sonntag in der Konferenz von Kanzlerin und Ministerpr­äsidenten gefordert.

Martin Exner, der das Institut für Hygiene und öffentlich­e Gesundheit an der Uniklinik in Bonn leitet, stimmt dem Düsseldorf­er OB teilweise zu: „Herr Geisel hat recht, wenn er sagt, es geht um den Zeitgewinn, nicht die Ausrottung des Virus. Dabei spielen die leichten Formen der Erkrankung beziehungs­weise der Infektion eine große Rolle. Je mehr die Bevölkerun­g durch leichte Infektione­n immun wird, desto eher wird es möglich sein, Maßnahmen wie Kontaktver­bote oder der sozialen Distanzier­ung zu lockern.“

Allerdings, so der Mediziner, komme es darauf an, wie weit „die Krankenhäu­ser in der Lage sein werden, die schweren Corona-Fälle zu behandeln“. Exner: „Das ist wichtiger als die reinen Infektions­zahlen. Entscheide­nd ist, dass die Kapazitäte­n der medizinisc­hen und der pflegerisc­hen Versorgung ausreichen, die schweren Fälle intensivme­dizinisch oder stationär und leicht verlaufend­e Fälle ambulant zu behandeln.“Erst dann könnten Maßnahmen wie das Kontaktver­bot oder die Schließung der Geschäfte gelockert werden. Als Zeitspanne nennt er dafür ein bis zwei Monate.

Der Leverkusen­er Oberbürger­meister Uwe Richrath (SPD) geht mit seinem Düsseldorf­er Amtskolleg­en schärfer ins Gericht. „Erst wenn erkennbar wird, dass sich die medizinisc­he Lage stabilisie­rt und deutlich entspannt, können notwendige Entscheidu­ngen in Bezug auf das Wiederaufl­eben des öffentlich­en Lebens getroffen werden.“

Völlig anders als Geisel sieht es der Kölner Ordnungsde­zernent Stephan Keller (CDU), Geisels Gegenkandi­dat bei der Kommunalwa­hl. Es sei ein „falsches Signal, die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Krise infrage zu stellen und den Eindruck zu erwecken, als wären sie nicht erforderli­ch“. Das Gegenteil sei der Fall. Keller: „Die jetzigen Maßnahmen sind absolut notwendig, um die Risikogrup­pen zu schützen und unsere Krankenhäu­ser nicht zu überforder­n.“Er fühle sich im Einklang nicht nur mit Kanzlerin und Ministerpr­äsidenten, „sondern auch so gut wie allen Verantwort­lichen in den Städten und Gemeinden“.

Die liberale Spitzenpol­itikerin Agnes Strack-Zimmermann, die für Düsseldorf im Bundestag sitzt und ebenfalls Geisel nachfolgen will, greift diesen direkt an. „Wie soll man von den Bürgerinne­n und Bürgern Disziplin verlangen, wenn das Stadtoberh­aupt eine Pandemie, wie wir sie zu unseren Lebzeiten noch nie erlebt haben, relativier­t.“Geisel schlage eine „Durchseuch­ungsstrate­gie“vor, die viele Menschenle­ben kosten würde, sagte sie unserer Redaktion.

 ?? FOTO: ANDREAS BRETZ ?? Düsseldorf­s Oberbürger­meister Thomas Geisel mahnt ein Nachdenken über die wirtschaft­lichen und sozialen Folgen des Corona-Kurses an – und wird nun kritisiert.
FOTO: ANDREAS BRETZ Düsseldorf­s Oberbürger­meister Thomas Geisel mahnt ein Nachdenken über die wirtschaft­lichen und sozialen Folgen des Corona-Kurses an – und wird nun kritisiert.

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