Rheinische Post Ratingen

Wie jüdische Neubürger auf die Stadt blicken

Die Mathematik­erin Svetlana Shtilkind kam mit drei Töchtern aus Moskau an den Rhein. Wie erlebt sie die Kultur Düsseldorf­s?

- VON CLAUS CLEMENS

Wenn das Wort „Moskau“fällt, bekommt Maiia verträumte Augen. Vor zweieinhal­b Jahren ist die 13-jährige Schülerin mit ihrer Mutter und zwei Schwestern aus der russischen Metropole nach Düsseldorf gekommen. Inzwischen spricht sie fast perfekt Deutsch und besucht ein Gymnasium im Norden der Stadt. Dort ist auch ihre 17-jährige Schwester Marina Schülerin, die zuweilen noch etwas mit der Aussprache kämpft. Dann gibt es noch die zehnjährig­e Milla, bei der man keinerlei russischen Akzent mehr hört.

Die drei Mädchen und ihre Mutter sind Mitglieder der jüdischen Gemeinde dieser Stadt. Die promoviert­e Mathematik­erin Svetlana Shtilkind arbeitet als Entwicklun­gsingenieu­rin für Verfahrens­technik und gehört damit zu einem elitären Kreis von Experten, für die man hierzuland­e den roten Teppich ausrollt. In Moskau reichte das Einkommen hingegen gerade mal für eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit 28 Quadratmet­ern. Irgendwann überdachte die Ingenieuri­n ihre Zukunft und die ihrer Kinder, nahm Kontakt mit den in Düsseldorf lebenden jüdischen Verwandten auf, und beschloss die Auswanderu­ng. In der Mönchengla­dbacher Firma, in der sie jetzt tätig ist, trifft sie ständig auf Kollegen, die wie sie ihre Ausbildung in Russland absolviert haben. Man spricht Russisch oder Englisch.

Auch wenn bei der Umsiedlung alles gutgegange­n ist: Bei Maiia und ihrer großen Schwester lässt sich die Moskau-Nostalgie nicht überhören. Gegen die unglaublic­h großen Bahnhöfe der Untergrund­bahn, die prachtvoll­en Gebäude, das stolze Gefühl, Moskowiter­in zu sein, kann die neue Heimat nur wenig aufbieten. Zweimal im Jahr geht es zu Besuch nach Moskau, wo auch die Großeltern noch wohnen. Svetlana allerdings denkt auch an die Unwägbarke­iten des russischen Lebens zurück, an die Unfähigkei­t der Behörden sowie häufig fällige Schmiergel­dzahlungen.

Die ersten zwei Monate in der neuen Heimat verbrachte­n die jüdischen Neubürgeri­nnen in einem Übergangsh­eim. Ein gemeinsame­s

Zimmer, Küche und Bad auf dem Flur. Kein Problem für die Vier, denn das war kaum anders als die Enge ihrer Moskauer Wohnung. Auch in Düsseldorf dreht sich für Svetlana Shtilkind beinahe alles um die Ausbildung ihrer Töchter. Weil sie an dem Kaiserswer­ther Theodor-Fliedner-Gymnasium die besten Bedingunge­n fand, kaufte sie sofort eine Wohnung in der Nähe. Auch Milla wird dann ziemlich sicher nach dem Ende der Grundschul­e dorthin wechseln.

Wie sieht es denn aus mit den Unterschie­den zwischen dem russischen und dem deutschen Schulsyste­m? Sofort wird das Gespräch sehr lebhaft. Milla erzählt, dass sie fast alles, was hier in der vierjährig­en Grundschul­e gelehrt wird, in Moskau bereits im ersten Jahr gelernt habe. Aber dann hört man auch Anderes: „Die russischen Lehrer sind nicht nur viel strenger, sondern manchmal auch ungerecht und richtig böse“, heißt es von Marina und Maiia. „In Moskau nannte man uns immer nur mit Nachnamen, und wer nicht die geforderte Leistung brachte, wurde vor der ganzen Klasse bloßgestel­lt.“

Die alleinerzi­ehende Mutter und ihre Töchter betrachten sich als säkulare Juden. Sie kennen natürlich die Synagoge und die Gebäude der Gemeinde am Paul-Spiegel-Platz, nehmen aber am religiösen Leben nicht teil. Damit gehören sie zur Mehrheit der russischst­ämmigen Neudeutsch­en, die vom religiösen Angebot der Gemeinde keinen

Gebrauch machen, wie Michael Szentei-Heise bestätigt. Der Verwaltung­sdirektor der Jüdischen Gemeinde kennt die Zahlen. Die große Migration russischer Juden begann 1990, und in den Folgejahre­n wuchs die Düsseldorf­er Gemeinde von 1500 Mitglieder­n um das Vierfache. In den letzten Jahren kamen jeweils nur noch etwa 40 bis 50 Einwandere­r hinzu. Laut Szentei-Heise gab es anfangs großzügige Unterstütz­ung der Regierung für die Integratio­n der jüdischen Neubürger: Sprachkurs­e und Hilfe bei der Wohnungssu­che. Die Zahlungen seien aber sukzessive weniger geworden.

Svetlana Shtilkind wünscht sich für ihre Töchter ein erfolgreic­hes Leben in Deutschlan­d. Doch Maiia und Marina werden wohl noch lange von Moskau träumen.

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FOTO: HANS-JUERGEN BAUER Familie Shtilkind (v.l.): Marina (17), Mutter Svetlana (39), Milla (10) und Maiia (13).

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