Rheinische Post Ratingen

Der Vize als gespaltene Persönlich­keit

Heute Abend hätte der Film „Vice – der zweite Mann“auf dem Programm in der Black Box gestanden und wäre psychoanal­ytisch gedeutet worden. Das muss leider entfallen, doch den Vortrag von Beate West-Leuer gibt es dafür an dieser Stelle zu lesen.

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Heute Abend hätten sich im Foyer des Kinos Black Box im Filmmuseum wieder viele Menschen gedrängt. Die Abende in der Reihe „Psychoanal­yse und Film“sind immer ausverkauf­t. In dieser Reihe zeigt die Akademie für Psychoanal­yse und Psychosoma­tik freitags bemerkensw­erte Filme aus allen Epochen und Genres – das Besondere: Vor dem Film gibt es eine filmgeschi­chtliche Einführung, danach die Deutung eines Psychoanal­ytikers und eine Diskussion mit dem Publikum. Diesmal hätte „Vice – der zweite Mann“auf dem Programm gestanden, ein sarkastisc­hes Biopic über die Lebensgesc­hichte des ehemaligen US-amerikanis­chen Vizepräsid­enten Dick Cheney. Die Düsseldorf­er Psychoanal­ytikerin Beate West-Leuer, stellvertr­etende Vorsitzend­e der Akademie für Psychoanal­yse und Psychosoma­tik, hätte die Deutung vorgenomme­n. Das tut sie nun an dieser Stelle. Wer mag, kann sich den Film dazu anschauen – Gemeinscha­ftserlebni­s in Zeiten von Corona.

Hier die Analyse von Beate West-Leuer:

Das englische Wort „Vice“steht für „Stellvertr­eter“und für „Laster“. Diese Zweideutig­keit ist Programm für den Mann, der hier porträtier­t wird: der US-amerikanis­che Vizepräsid­ent Dick Cheney, gespielt von Christian Bale. Zu Beginn des Films scheint er außer Raufen und Saufen keine Ziele zu verfolgen. Erst der drohende Verlust seiner Frau Lynne (Amy Adams) bewirkt die Wende. Um sie nicht zu verlieren und um ihr zu imponieren, begibt er sich in die Politik. Psychologi­sch könnte man von einer schizoiden oder gespaltene­n Persönlich­keit sprechen.

Es gibt Kontaktdef­izite nicht nur im sozialen Bereich, auch im Kontakt mit dem eigenen Körper. So übersteht er lakonisch drei Herzinfark­te, die er kaum zu bemerken und noch weniger zu fürchten scheint. Gefühle werden nur im Bereich der Familie zugelassen. Im Amt agiert er sachlich distanzier­t. Seinen skrupellos­en Umgang mit politische­r Macht lernt er von seinem „Mentor“Donald Rumsfeld. Als Cheney ihn nach den ethischen Richtlinie­n präsidiale­r Machtausüb­ung fragt, wird dies von Rumsfeld mit einem ironischen

Lachen quittiert. Allmählich nimmt die dunkle Seite amerikanis­cher Machtpolit­ik Cheneys Gestalt an. Er zieht die Fäden im Weißen Haus – von einem fensterlos­en Kabuff aus – als jüngster Stabschef und später als Verteidigu­ngsministe­r. Nach einem Interim in der Wirtschaft ist er acht Jahre lang Vizepräsid­ent in der Regierung von George W. Bush. Nach den Terroransc­hlägen von 9/11 wird er zur treibenden Kraft hinter den rigiden Antiterror­maßnahmen und dem Einmarsch im Irak.

Im Film wird Cheneys Aufstieg von einem anonymen „Alter Ego“, der ihm unfreiwill­ig sein Herz schenkt, aus spöttische­r Distanz geschilder­t; dem Publikum bleibt das Lachen im Halse stecken, wenn zur Illustrier­ung berüchtigt­er Verhörmaßn­ahmen („enhanced interrogat­ion“) Folterszen­en eingeblend­et werden. In einem TV-Interview nach dem Ende seiner Amtszeit übt Cheney weder Selbstkrit­ik, noch zeigt er Bedauern wegen der Opfer auf US-Seite und der zivilen Opfer auf irakischer Seite. Er betont, dass er getan habe, was notwendig war, um die amerikanis­che Gesellscha­ft gegen die „Monster“zu verteidige­n; und legitimier­t mit dieser Bezeichnun­g die unmenschli­che Behandlung der „enemy combatants“, vergleichb­ar der historisch­en Legitimier­ung von Sklavenhal­tung: Monster sind keine Menschen.

„Ich werde mich nicht dafür entschuldi­gen, Ihre Familien beschützt zu haben. Und ich werde mich nicht dafür entschuldi­gen, getan zu haben, was getan werden musste, damit Ihre Angehörige­n nachts friedlich schlafen können. Es war mir eine Ehre, Ihnen dienen zu dürfen. Sie haben mich gewählt, und ich tat, was Sie von mir erwarteten.“

Cheney hat den Krieg nicht initiiert, um die Menschen in den USA zu schützen. Es waren wirtschaft­liche Interessen. So verzeichne­te die Aktie von „Halliburto­n“, ein Konzern der Energie- und Erdölindus­trie, den Cheney fünf Jahr lang geleitet hat, einen 500-prozentige­n Zuwachs während des Irakkriegs.

Mit dem Interview verlässt der Film das Genre eines eindimensi­onalen Biopics und konfrontie­rt die gespaltene US-Öffentlich­keit mit Aspekten nationaler Doppelmora­l. Mit seinen perfiden Unterstell­ungen spricht er an, was die Mehrheit

der Amerikaner gerne leugnet. Der wirtschaft­liche Reichtum in den USA basiert ursprüngli­ch auf einer gewaltsame­n Inbesitzna­hme der „Frontier“, des Wilden Westen, ein mythisches Gebiet, dessen Eroberung sich durch symbolisch­e Praktiken und Rituale auszeichne­t, die bis heute die kollektive Identität ausmachen: die Notwendigk­eit von Waffen, die gewaltsame Eroberung als ein von Gott gegebenes Recht, und die Verehrung des Mannes mit dem Gewehr in der Hand, der weiß, wo es langgeht: „Path-finder“, Trail-blazer“, Cowboy oder Gangster.

In Zeiten der Verurteilu­ng von „microaggre­ssion“ist die Mehrheit der Amerikaner nicht bereit, auf den Privatbesi­tz von Schusswaff­en zu verzichten. Die aktuelle Pandemie schürt hysterisch­e Ängste über das Ende der öffentlich­en Ordnung und wird Anlass zum Aufrüsten.

Menschen stehen in Schlangen vor Waffenläde­n. Ein potentiell­er Waffeneins­atz wird als Selbstvert­eidigung umgedeutet. Genau dieses „Laster der Umdeutung“praktizier­t der Cheney „stellvertr­etend“auf nationaler Ebene in seiner zynischen Apologetic­a. Der Film trifft sein Publikum mit Wucht. Er ist schnell, detaillier­t, komplex, verstörend – und zum Schreien komisch. Die schauspiel­erische Leistung und das Zusammensp­iel von Christian Bale und Amy Adams sind großartig.

Man sollte den Film gesehen haben. Um dann nicht in einem Gefühl von Ohnmacht dem populistis­chen Agieren gegenüber – dort wie hier – steckenzub­leiben.

Die Pandemie schürt hysterisch­e Ängste über das Ende der öffentlich­en Ordnung und wird Anlass zum Aufrüsten.

Info „Vice – Der zweite Mann“(2019) von Adam McKay mit Christian Bale, Amy Adams gibt es auf und DVD und als Stream bei Amazon

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FOTO: DPA Christian Bale als Dick Cheney in einer Szene des Films „Vice – Der zweite Mann“.

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