Europas Immunschwäche
So inszeniert man eine Demütigung: Vor laufenden Kameras landete am 12. März ein chinesisches Frachtflugzeug in Rom. An Bord gut 30 Tonnen medizinische Hilfsgüter für das von der Corona-Katastrophe ins Herz getroffene Italien. Die Bilder der winkenden chinesischen Wohltäter liefen auf allen TV-Kanälen und transportierten eine mächtige Botschaft: Wir helfen, während eure europäischen Nachbarn euch die kalte Schulter zeigen. Mit dem untrüglichen Gespür für die Schwachstellen des Gegners, über das autoritäre Regime so häufig verfügen, hatte China einen Propaganda-Coup gelandet – ausgerechnet jenes Land also, dessen Führung durch anfängliches Vertuschen den Ausbruch der Corona-Pandemie mindestens begünstigt hatte.
Auch Corona-Helfer aus Russland und aus Kuba ließen sich in Italien bejubeln, als große Länder wie Deutschland und Frankreich die verzweifelten italienischen Hilferufe noch mit Ausfuhrverboten für Schutzkleidung und Beatmungsgeräte beantworteten. Während man an die Bürger appellierte, doch bitte kein Toilettenpapier zu horten, handelten die Regierungen selbst egoistisch. Und dumm obendrein: Wer kann denn im Ernst glauben, dass die Bekämpfung einer Pandemie auf Ebene der Nationalstaaten erfolgversprechender ist als im europäischen Rahmen?
Die Europäische Union hat schon viele Krisen überstanden, aber die Corona-Heimsuchung stellt erstmals eine existenzielle Herausforderung für die Staatengemeinschaft dar. Denn das Virus zeigt schonungslos, wie dünn der Firnis des Zusammenhalts eigentlich ist, auf dem die Idee der EU beruht. Und wie wenig selbstverständlich die Zusammenarbeit in einer Notlage. Der Mangel an Solidarität, den die Staatsund Regierungschefs bei ihrem jüngsten Gipfel an den Tag gelegt hätten, bringe die EU in „Lebensgefahr“, warnte der ehemalige Kommissionspräsident
Jacques Delors vor wenigen Tagen.
Zwar hat man mindestens in Berlin inzwischen begriffen, wie zersetzend der nationale Egoismus in Corona-Zeiten für die europäische Idee sein kann. Italien wird seither mit Hilfsgütern beliefert, und es werden einige schwerkranke Covid-19-Patienten aus anderen europäischen Ländern auf deutschen Intensivstationen behandelt. Aber das ist ja nur selbstverständlich und kann im Übrigen nur ein Anfang sein, wenn es darum geht, die Überreaktionen der vergangenen Wochen zu korrigieren.
Dazu gehören vor allem auch die nationalen Alleingänge der Grenzschließungen. Verkauft als Maßnahme zum Schutz der eigenen Bevölkerung, gingen in ganz Europa ruckzuck die Schlagbäume herunter, als hätte es die europäische Freizügigkeit und den Binnenmarkt nie gegeben, die ja nicht umsonst als die größten Errungenschaften der EU gelten. Nicht einmal auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise hatten sich die Europäer derartig in ihren nationalen Territorien verbarrikadiert. Und zwar aufgrund politischer Reflexe und nicht auf Basis rationaler Erwägungen.
Niemand wird bestreiten, dass es sinnvoll sein kann, einzelne Gebiete zu isolieren und deren Bewohner unter Quarantäne zu stellen, um die Ausbreitung der Infektionen einzudämmen. Doch leider tut uns das Coronavirus nicht den Gefallen, sich um nationale Grenzen zu scheren, weil die Seuchenbekämpfung nun einmal auf der Ebene der Mitgliedstaaten erfolgt. Grenzkontrollen und Einreisestopps innerhalb der EU sind eher ein Zeichen der Hilflosigkeit von Politikern, die sich von ihren Wählern nicht vorwerfen lassen wollen, sie würden weniger konsequent durchgreifen als ihre Kollegen in den Nachbarländern. Dass man dieselben Effekte auch beim Gezänk zwischen deutschen Länderfürsten beobachten konnte, ist da auch kein rechter Trost.
In Deutschland haben wir nun eine Debatte darüber, ob der Föderalismus angesichts einer derartigen Krise
schlagkräftig genug sei und ob die Bundesregierung künftig nicht doch mehr Durchgriffsrechte für einen Katastrophenfall erhalten müsse. Es könne doch nicht sein, monieren Kritiker, dass 16 Landesregierungen jede für sich Entscheidungen treffen und dabei auch noch von Hunderten Kreisgesundheitsämtern abhängig seien.
Dieselbe Debatte wünschte man sich für die EU. Denn dort ist die Lage noch drastischer: Brüssel hat in Sachen Gesundheitspolitik praktisch nichts zu melden. Nicht einmal in einer Ausnahmesituation, wie sie die Corona-Pandemie zweifellos darstellt. Zwar gibt es das EU-Katastrophenschutzverfahren, das die Kommission ermächtigt, in Krisenlagen grenzüberschreitende Unterstützung zu organisieren. Aber als Italien Anfang März die Aktivierung des Verfahrens beantragte, habe es dafür von keinem einzigen EU-Mitgliedstaat Unterstützung gegeben, beklagte Italiens EU-Botschafter Maurizio Massari. Und auch auf die Expertise des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten, der Epidemie-Agentur der EU, war offenbar niemand erpicht.
Damit sich das beschämende und obendrein schädliche Jeder-für-sich bei der nächsten Gesundheitsnotlage nicht wiederholt, müssen die Mitgliedstaaten der EU zusätzliche Kompetenzen bei der Seuchenbekämpfung zugestehen. Testverfahren müssen endlich vereinheitlicht werden, Isolierungsmaßnahmen dürfen nur koordiniert erfolgen, die Verfügbarkeit von medizinischem Material und Personal muss über Ländergrenzen hinweg organisiert werden. Dagegen wird es heftige Widerstände geben, und trotzdem ist das noch der leichtere Teil.
Denn die wahre Bewährungsprobe in Sachen Corona steht der EU erst noch bevor. Dann nämlich, wenn es darum geht, die schweren wirtschaftlichen Schäden durch die Pandemie zu reparieren. Unter dem Stichwort „Corona-Bonds“hat die Debatte über die Auflage eines Notfallfonds zur Krisenbewältigung bereits begonnen. Gemeint sind gemeinsame EU-Anleihen, die durch die gute Bonität von Ländern wie Deutschland auch wirtschaftlich schwächeren Eurostaaten wie Italien und Spanien zu niedrigen Zinsen verhelfen sollen. Während der Staatsschuldenkrise wurde so etwas in Berlin, aber auch in Den Haag und Wien noch vehement abgelehnt. Die Nordländer wollten nicht für die selbstverschuldete Schieflage der Südländer in Haftung genommen werden. Dieselbe Konfrontation droht auch jetzt wieder. Nur ist die Situation nicht dieselbe, und die potenziellen Folgen des Streits sind es auch nicht. Dieses Mal droht die EU darüber auseinanderzubrechen.