Die Angst vor der zweiten Welle
Viele ostasiatische Staaten sind mit teils drastischen Maßnahmen erfolgreich gegen das neue Coronavirus vorgegangen. Nun schotten sie sich ab.
PEKING Wenige Sekunden bevor die Uhren am Samstagmorgen 10 Uhr schlugen, fingen bereits die Autos vor dem Eingang des Pekinger Arbeiterstadions zu hupen an. Wenig später setzten auch die Luftschutzsirenen ein. Die Passanten hielten inne, die Verkehrspolizisten standen mit gebückten Köpfen, und die Ampeln blieben drei Minuten lang auf Rot geschaltet. In kollektiver Einigkeit gedachte die Volksrepublik China ihrer über 3000 Virustoten. Zum ersten Mal, seit im Jahr 2010 rund 1500 Menschen bei einem Erdrutsch in der nordwestlichen Provinz Ganzu umgekommen sind, hat die Regierung einen nationalen Trauertag ausgerufen.
Zum Qingming-Fest trauern die Chinesen traditionell um ihre Toten und säubern die Gräber. Normalerweise werden Blumen, Essen und andere Gegenstände für die Toten abgelegt sowie Papiergeld und Räucherstäbchen verbrannt. Um die Ausbreitung des neuen Coronavirus zu verhindern, hatten aber viele Provinzregierungen die Menschen aufgefordert, nicht zu den Gräbern zu pilgern. Friedhöfe organisierten kollektive Riten. Über Online-Plattformen konnten virtuell Opfergaben überreicht werden.
Mit dem Gedenktag schließt China symbolisch mit einem der tragischsten Kapitel in der modernen Geschichte des Landes ab: Das Coronavirus Sars-CoV-2, das noch im Februar eine Provinz von rund 60 Millionen Einwohnern zum Kollaps gebracht hatte, wirkt im mittlerweile zum Alltag zurückfindenden Staat schon fast wie ein Relikt der Vergangenheit. Seit gut zwei Wochen nämlich scheinen die Zahlen der täglichen Neuinfektionen im mit 1,4 Milliarden Menschen bevölkerungsreichsten Land der
Welt fast schon vernachlässigbar: Am Freitag bestätigte die nationale Gesundheitskommission in Peking 31 Neuinfektionen, wobei es sich bei 29 um sogenannte importierte Fälle, also Einreisende aus dem Ausland, handelte. Auch wenn sich die Indizien häufen, dass die offizielle Statistik in China frisiert sein könnte, gilt doch im Großen und Ganzen: Das Reich der Mitte hat das Coronavirus im Moment erfolgreich unterdrückt.
Wie fragil dieser Zustand ist, wird jedoch dieser Tage mehr als deutlich: Das Land hat seine Pforten für Ausländer vollständig dichtgemacht, selbst Personen mit Hauptwohnsitz in der Volksrepublik dürfen ihre Wahlheimat bis auf Weiteres nicht mehr betreten. Zudem haben die Behörden erneut einen Landstrich in der Provinz Henan isoliert, nachdem sich eine Frau bei einem infizierten, aber keine Symptome zeigenden Arzt angesteckt hatte.
Auch die Abriegelung des Epizentrums Wuhan, dessen Einwohner ab dem 8. April die Metropole erstmals seit Monaten verlassen dürfen, soll sich angeblich aufgrund der Angst vor den „stillen Virusträgern“weiter verzögern. Eine Studie im „Lancet Public Health Journal“prognostiziert, dass eine Aufhebung der Restriktionen in Wuhan zu einer zweiten Viruswelle bis August führen könnte.
Wer von Europa nach Ostasien schaut, blickt auch immer ein wenig in die Zukunft: In China, Südkorea und Japan ist das Virus schließlich zuerst ausgebrochen, die erste Ansteckungswelle flachte auch dort als Erstes deutlich ab. Die wichtigste Lehre aus jener Region ist allerdings eine ernüchternde: Die Gefahr einer zweiten Welle bleibt so lange bestehen, bis das Virus medizinisch im Griff ist. Der Kampf gegen Sars-CoV-2 lässt sich nur global gewinnen.
Praktisch alle ostasiatische Länder schotten sich derzeit aus Angst vor der zweiten Infektionswelle ab: Südkorea etwa war stets dafür bekannt, dass es aufgrund systematischer Tests die Wachstumskurve der Infektionsfallzahlen abflachen konnte – ohne flächendeckende Quarantänemaßnahmen einzuführen oder sich abzuschotten. Nun muss jeder aus dem Ausland Einreisende sich für 14 Tage nach Ankunft in Quarantäne begeben. Japan hat seine Quarantänebestimmungen ebenfalls für Einreisende aus fast allen Teile Europas ausgeweitet. Es scheint zunächst wie ein Widerspruch: Ausgerechnet in jenen Ländern, in denen die Infektionszahlen sinken, steigen gleichzeitig die Abriegelungen.