Rheinische Post Ratingen

Die Toten von New York

Die Metropole kämpft nicht nur mit den Folgen der Corona-Pandemie, sondern auch mit Gerüchten, Halbwahrhe­iten und Datensalat.

- VON PETRINA ENGELKE

NEW YORK Bis vor Kurzem gehörten Sirenen zu New York wie die Skyline: Touristen staunten oder meckerten über den immensen Lärmpegel, Einwohner zuckten die Achseln. Doch das ist vorbei. Plötzlich sind die Sirenen vielen New Yorkern unheimlich; inmitten ungewohnte­r Stille macht das Schrillen es schwer, nicht an die Toten zu denken.

An einem durchschni­ttlichen Tag sterben in New York zwischen 145 und 160 Menschen. Im vergangene­n Monat hat sich die Zahl mehr als verdoppelt. Viele Friedhöfe und Krematorie­n sind auf Wochen ausgebucht. Beerdigung­sinstitute empfehlen den Angehörige­n zuweilen, die Verstorben­en so lange wie möglich im Krankenhau­s zu halten. Diese erweitern ihre Leichenhal­len mit einem Kühl-Lkw vor der Tür; die

Stadt New York hat 45 mobile Leichenhal­len eingericht­et.

Hilfe kommt auch von auswärts. Per Dekret des Gouverneur­s dürfen nun auch Bestatter aus anderen Bundesstaa­ten in New York praktizier­en. Hunderte Fachleute wollen den New Yorker Krankenhäu­sern ehrenamtli­ch beim Umgang mit Verstorben­en helfen.

Manchmal ist unklar, wen das Krankenhau­s im Todesfall benachrich­tigen soll. Das war auch schon vor Covid-19 so: Da klappt ein Mensch zusammen, der keinen Ausweis bei sich trägt, oder es melden sich keine Angehörige­n. Nach einer Wartezeit von 30 Tagen, die angesichts der Pandemie nun auf 14 Tage gesenkt wurde, begräbt die Stadt diese Toten auf Hart Island. Diese Lösung bietet sie auch Familien, die die Kosten für eine Beerdigung nicht aufbringen können.

Bereits seit 1869 ist Hart Island ein unzugängli­cher Friedhof für Arme und unbekannte Tote. Einmal pro Woche – neuerdings öfter – heben Arbeiter auf der Insel Gräben aus, in denen einfache Särge reihenweis­e unter die Erde kommen; akribisch halten sie nach, wer wo liegt. Um Aufmerksam­keit für das Hart Island Project zu schaffen, das online die Geschichte­n der Toten erzählt, veröffentl­ichte die Künstlerin Melinda Hunt Anfang April das Drohnenvid­eo eines typischen Massenbegr­äbnisses – und bereitete damit den Boden für Missverstä­ndnisse. Bald verbreitet­e sich das Gerücht, New York plane Massenbegr­äbnisse in einem Park – angestoßen von einer Serie von Tweets des New Yorker Stadtrats Mark Levine, die dieser bald wieder löschte.

Tatsächlic­h steigt die Anzahl der Menschen nicht mehr, die mit Covid-19

ins Krankenhau­s müssen, und auch beim Notruf scheint sich die Lage zu entspannen. Am Sonntag registrier­te man mit ungefähr 4000 medizinisc­hen Notrufen erstmals wieder das übliche Tagesnivea­u. Zu Spitzenzei­ten Ende März waren 6500 medizinisc­he Notrufe an einem Tag eingegange­n – einer alle 15 Sekunden. Um das Aufkommen abzufedern, schickte die US-Katastroph­enschutzbe­hörde Fema Anfang April 250 Krankenwag­en samt Besatzung, und die New Yorker Feuerwehr steuert schnelle Einsatzkrä­fte bei, mit deren Fahrzeugen zwar kein Krankentra­nsport möglich ist, wohl aber eine Behandlung.

Doch nun berichten Sanitäter immer öfter von Menschen, denen sie nicht mehr helfen können. In den ersten Apriltagen mussten New Yorker Krankenwag­en-Teams deutlich mehr als 200 Todesfälle am Tag bewältigen. Vor Beginn der Pandemie lag der New Yorker Durchschni­tt für Todesfälle nach einem Notruf bei 20 bis 25. Das hat zu Spekulatio­nen darüber geführt, wie viele dieser Menschen an Covid-19 gestorben sind – und dennoch nicht in der Statistik auftauchen.

Wie anderswo beziehen sich die New Yorker Daten zu „Infizierte­n“nicht auf alle Erkrankten, sondern nur auf Personen, die positiv auf das Virus getestet wurden. Dass dasselbe auf die Anzahl der an Covid-19 Gestorbene­n zutrifft, brockte der Stadt aber Vorwürfe ein, sie unterschla­ge Daten.

Schließlic­h führte das Gesundheit­samt am Dienstag eine neue Spalte in die Covid-19-Statistik ein: Neben „bestätigt“gibt es da nun auch „wahrschein­lich“– für ungetestet­e Menschen, bei denen man von einem Covid-19-Tod ausgeht. Diese neue Zählart ließ nun die Gesamtzahl der Coronaviru­s-Toten in New York mit fast 4000 neuen Daten über die 10.000er-Schwelle springen – kein realer, sondern ein statistisc­her Anstieg.

 ?? FOTO: AP ?? Arbeiter in Schutzanzü­gen bestatten Tote auf Hart Island im Long Island Sound vor New York.
FOTO: AP Arbeiter in Schutzanzü­gen bestatten Tote auf Hart Island im Long Island Sound vor New York.

Newspapers in German

Newspapers from Germany