Wo der deutsche Landadel lebte
Hunderte Gutshöfe hinterließen die Deutschbalten einst in Lettland und Estland. Lange unbeachtet, erstrahlen sie nun in neuem Glanz. Ein Reise-Tipp für die Zeit nach den Corona-Reisebeschränkungen.
Wer über das knarzende Parkett von Gut Kukschen in Lettland schreitet, kommt aus dem Staunen fast nicht mehr heraus. Von den mit Stuckreliefs verzierten Decken hängen funkelnde Kronleuchter herab, an den Wänden finden sich aufwendig freigelegte Malereien und unzählige Gemälde, und die Räume sind fast schon überladen mit antikem Mobiliar. „Meine Gäste sollen ein Gefühl dafür bekommen, wie der Landadel seinerzeit gelebt und geschwelgt hat“, sagt Daniel Jahn bei einem Rundgang durch das Anwesen, rund 85 Kilometer westlich der Hauptstadt Riga.
Der deutsche Hotelier führt durch das prunkvolle und mit Liebe zum Detail eingerichtete Herrenhaus, in dem man heute auf den Spuren deutschbaltischer Adliger wandeln kann. Jahn hat Kuksu Muiza, wie das Anwesen auf Lettisch heißt, kurz vor der Jahrtausendwende in desolatem Zustand erworben und wieder zum Leben erweckt. Damit wurde der Rheinland-Pfälzer zu einer Art Trendsetter im Baltikum, wo immer mehr Gutshöfe eine stilvolle Wiedergeburt als Museen, Restaurants oder Hotels erleben.
„Als ich das Haus zum ersten Mal sah, war es eine Ruine“, erinnert sich Jahn. Im Dach klafften große Löcher, die Fenster fehlten, die Wände waren teils eingefallen, der Park von Unkraut überwuchert. Dennoch fand der Endfünfziger sofort Gefallen an dem geschichtsträchtigen Gebäude. Für 18.000 US-Dollar kaufte er das 1530 erstmals schriftlich erwähnte Herrenhaus, in dem die Mutter des deutschbaltischen Schriftstellers Werner Bergengruen geboren wurde.
„Der Kauf war letztlich eine reine Bauchentscheidung“, erzählt der seit Anfang der 1990er Jahre in Lettland lebende Jahn. Beim Betrachten der alten Bilder wundere er sich heute manchmal noch über seinen Mut. Den Ausschlag dafür habe der erste Eindruck gegeben, und auch das Bild, wie sich das Herrenhaus auf dem dahinterliegenden See spiegelt: „Es sah aus wie ein verwunschenes Märchenschloss“, sagt Jahn.
In Deutschland hatte Jahn Wirtschaft und Hotelmanagement studiert, danach weltweit als Koch, Kellner und Hotelchef gearbeitet. Nach Lettlands wiedererlangter Unabhängigkeit übernahm er die Leitung des ersten Hotels mit westlichen Standards – es wurde zum besten Haus am Platz. 2007 machte er sich mit Gut Kukschen selbstständig und begründete den Gutshaustourismus in Lettland.
Um das heruntergekommene Anwesen wieder in alter Pracht erstrahlen zu lassen, investierte Jahn mehrere Millionen Euro. Für die weitestgehend originalgetreue Renovierung zog er Denkmalschützer und Historiker hinzu, sammelte auf Grundlage einer alten Inventarliste Stilmöbel und erstand Gemälde. Entstanden ist ein ruhig und abgeschieden gelegenes Landhotel mit gut einem Dutzend Gästezimmern, jedes davon mit eigenem Charme.
Jährlich beherbergt Jahn bis zu 1200 Gäste, die er selbst mit Gerichten aus regionalen Zutaten bekocht. Mehrfach bereits ist das Gutshaus durch den Besuch von hochrangigen Gästen geadelt worden: Ob lettische Staatspräsidenten, ausländische Honoratioren oder deutsche Würdenträger – die Einträge im Gästebuch sind beeindruckend.
Doch die Konkurrenz für Jahn wächst. In Lettland wie auch im benachbarten Estland erstrahlen immer mehr alte Gutshöfe in neuem Glanz und empfangen in gediegenem Ambiente Gäste aus nah und fern – oft mit hochmoderner Inneneinrichtung. „Herrenhäuser
werden immer beliebter, weil der Lebensstandard weiter steigt. Viele Menschen möchten sich wie Aristokraten fühlen“, sagt Janis Lazdans vom Lettischen Verband der Burgen, Schlösser und Gutshäuser.
Auch Riin Alatalu von Estnischen Gutshausverband sieht ein zunehmendes Interesse an den Gutshöfen. „Sie sind bei einheimischen und ausländischen Besuchern beliebt“, sagt sie über die Gebäude, die sich oft mit ihren hellen Farben und imposanter Architektur von der ländlichen Umgebung abheben. Rund 1250 davon gab es vor mehr als 100 Jahren noch in Estland, ähnlich viele waren es in Lettland – die meisten davon Renaissance-, Barock- und Jugendstil-Bauten.
Lange galten die Gutshäuser als Symbol der Unterdrückung durch die Deutschbalten, die als herrschende Oberschicht einst die Politik und Kulturgeschichte
in Lettland und Estland bis zur Unabhängigkeit der Länder 1918 geprägt haben. Doch vor einigen Jahren setzte ein Umdenken ein: Heute gelten die Anwesen, deren Blütezeit als repräsentative Herrschaftssitze in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann, als Teil des zu bewahrenden Kulturerbes.
Noch aber suchen viele nach finanzkräftigen Käufern, die die Häuser aus dem Dornröschenschlaf wecken. Hunderte Liegenschaften stehen zum Verkauf. Abgesehen von denjenigen Anwesen, die nach dem Ende der Gutsherrenzeit als Dorfschulen oder Heime abgenutzt und zu Sowjetzeiten auch anderweitig zweckentfremdet wurden, verfiel ein Großteil der Gebäude. Die meisten sind in schlechtem Zustand und stehen seit Jahren leer.
Die Preise für die oft aus mehreren Gebäuden, Parkanlagen und Gärten bestehenden
Gutshöfe reichen von einem Euro bis zu mehreren Millionen, wie die Verbandsvertreter berichten. Doch der Kauf birgt besondere Herausforderungen: Neben dem fortgeschrittenen Verfall ist es oft vor allem die fehlende wirtschaftliche Nutzbarkeit, die dem Erhalt der denkmalgeschützten Bauten im Wege steht. Auch Fördergelder für die Restaurierung gibt es nicht, dafür jede Menge Auflagen.
„Ein solches Haus muss man lieben, denn wirtschaftlich ist es ein Abenteuer“, sagt Hotelier Daniel Jahn. Nach Abzug aller Personal- und Sachkosten bleibe kaum etwas übrig, ganz zu schweigen von den Kosten für den Unterhalt der Anwesen mit ihren weitläufigen und meist parkähnlich angelegten Grundstücken. „Man muss schon ein Enthusiast sein und ein wenig verrückt, um sich darauf einzulassen“, meint Jahn.