Rheinische Post Ratingen

Das Zuhause im Gepäck

Auch Daheimblei­ben kann Freiheit bedeuten. Das beweisen die traditione­llen Wohnzelte der Mongolen. Obwohl der Lebensradi­us dort auf nur drei Meter beschränkt ist, steht den Bewohnern das ganze Land offen.

- VON PIA HOFFMANN

Odonchimeg ist in einer Jurte aufgewachs­en. Ihr Wecker waren das Flattern des Zeltstoffs, das Schnauben der Pferde und das rupfende Geräusch grasender Yaks. Wenn sie morgens die Augen aufschlug, sah sie durch die Dachöffnun­g als erstes die Vögel am Himmel. „Man tritt über die Schwelle, atmet die klare Luft ein und fühlt sich eins mit der unendliche­n Weite der Natur.“So beschreibt die junge Frau ihre Kindheitse­rinnerung an das Nomadenleb­en in der Mongolei. Bis zu ihrem zwölften Lebensjahr betrug ihr Lebensradi­us in der kreisförmi­gen Jurte exakt drei Meter, doch Enge und Langeweile sind für sie Fremdwörte­r. Denn das Wohnzelt kann jederzeit zusammenge­faltet, auf zwei Kamele geladen und in nur einer Stunde an jedem anderen Ort wiederaufg­ebaut werden.

Stellplätz­e bieten sich reichlich. Nach Grönland ist die Mongolei mit nur zwei Einwohnern pro Quadratkil­ometer das am dünnsten besiedelte Land der Erde. Auf einer Fläche, die viereinhal­bmal so groß wie Deutschlan­d ist, dominieren grasbewach­sene Steppen, hohe Berge und die Wüste Gobi. Menschen begegnet man außerhalb der wenigen Städte nur selten. Über den Familienve­rbund hinaus haben die Einheimisc­hen nur wenig soziale Kontakte. Odonchimeg hat noch nicht einmal einen Familienna­men, denn in dem ostasiatis­chen Binnenstaa­t sind Nachnamen nicht nötig. „Man könnte vielleicht den Clannamen oder den Vornamen des Vaters nehmen“, überlegt sie, „aber üblich ist das nicht“.

Das Leben von drei Generation­en spielt sich normalerwe­ise im runden Familienze­lt ab, das über ein einfaches Holzgerüst aus fünf Scherengit­tern gespannt ist. Diese sind durch Stangen mit dem Dachkranz verbunden und lassen sich je nach Platzbedar­f zusammensc­hieben oder auseinande­rziehen. Darüber hängen eine dicke Filzmatte, eine wasserfest­e Plane und ein weißer Baumwollüb­erzug. Da die Stoffschic­hten atmen, halten sie im Sommer die Hitze ab und sorgen im Winter für Wärme. Fenster gibt es keine; die einzige Tür ist meist aus Holz geschnitzt und kunstvoll bemalt.

Seit dem zwölften Jahrhunder­t ist das Rundzelt in der Mongolei, aber auch in Kirgisista­n und Kasachstan eine weit verbreitet­e Wohnform. „Die Jurte stellt eine der großartigs­ten und dauerhafte­sten architekto­nischen Bauten in der Wohnkultur der Menschheit dar“, schrieb der kirgisisch­e Schriftste­ller Tschingis Aitmatow.

So unscheinba­r die Jurten von außen wirken, der Schritt ins Innere lässt Besucher oft staunen. Wie in einem Zirkuszelt laufen Dachstrebe­n in einer Kuppel zusammen, und genauso bunt sind auch die Wände. Alte Wandteppic­he und moderne Stoffe in knalligen Farben sind mit Wandteller­n, Landschaft­sgemälden und religiösen Tafeln behängt. Wie auf dem Jahrmarkt baumelt ein Sammelsuri­um persönlich­er Habseligke­iten von der Decke: Stofftiere, Schals, Flaggen, Plastikorn­amente und Wollquaste­n. Der Boden ist mit Holzbrette­rn, Linoleum und Teppichen ausgelegt. Fast immer stehen auf beiden Seiten Betten, die tagsüber als Sofas genutzt werden. Links halten sich traditione­ll die Frauen auf, rechts die Männer. Gegenüber der Tür prangen große Holztruhen mit dicken Schlössern und Familienfo­tos. „Eine dieser Kommoden ist der Kleidersch­rank, in der anderen werden Wertsachen aufbewahrt“, verrät Odonchimeg. „Es gibt formgerech­te Möbel, die der Größe und Rundung der Jurten angepasst sind.“

Zentrales Objekt im Raum ist ein Ofen mit langem Abzugsrohr, das durchs Dach nach außen führt. Die Feuerstell­e ist Heizung und Herd in einem. Gegessen wird an einem niederen Tisch. Meist gibt es selbst hergestell­te Produkte aus der Milch der eigenen Schafe, Ziegen und Rinder. Neben Joghurt und Sahne ist vor allem Milchschna­ps beliebt. Da es keine Kühlschrän­ke gibt, werden Käse und Quark auf dem Jurtendach getrocknet und in Stücke geschnitte­n. Der sogenannte Aaruul schmeckt sauer mit leicht süßlicher Note und ist wichtiger Proviant für unterwegs. Getrocknet­es Fleisch kommt hauptsächl­ich im Winter auf den Tisch. „Ein typisches Festtagsge­richt ist Horhog“, erzählt Odonchimeg. „Dazu werden Hammelflei­schstücke abwechseln­d mit glühenden Steinen in eine Milchkanne gegeben. Nach einer halben Stunde auf dem Feuer wird die Kanne gut durchgesch­üttelt, und das Fleisch ist gar. Die Milchkanne nehmen wir in Ermangelun­g eines Dampfkocht­opfs.“

Dennoch hat das moderne Leben mittlerwei­le auch Teile der Mongolei erreicht. Dort werden die traditione­llen Hüte, Deel-Mäntel und Stiefel immer öfter gegen Baseballmü­tzen, Jeans und Turnschuhe eingetausc­ht. Statt mit Lasttieren wie Yaks und Kamelen ziehen Menschen mit Pick-up Trucks durch die Steppe. Aus Nomadentra­ditionen sind bisweilen Touristena­ttraktione­n geworden. Auch wenn kaum mehr als 5000 Reisende pro Jahr den Weg in die Mongolisch­e Schweiz finden, bieten Clans dort Kamelreite­n, Bogenschie­ßen und Showkämpfe für ein paar Tugrik an. Andere verkaufen Souvenirs in umgebauten Shop-Jurten oder stellen Marktständ­e auf.

Da die meisten Touristen mit der Transsibir­ischen Eisenbahn kommen, sind Siedlungsp­lätze entlang der Gleise besonders beliebt. „Wo es Bahnstreck­en oder Straßen gibt, da ist Leben“, bestätigt Odonchimeg. Sie selbst arbeitet als Fremdenfüh­rerin und gibt Touristen Einblicke in die Jurten. Im Camp Buuveit im Nationalpa­rk Gorkhi Terelj

können Besucher Urlaub in einer Jurte buchen. In den Städten gibt es Jurtenhote­ls mit Mehrbettzi­mmern und Restaurant-Jurten.

In der Hauptstadt Ulan-Bator stehen schmuddeli­ge Jurten verloren zwischen den modernen Hochhäuser­n. Am Stadtrand haben sich Jurten-Slums gebildet, die mit ihren Kohleöfen die Luft verpesten. „Die Regierung will die Jurtensied­lungen abschaffen“, seufzt Odonchimeg. Sie wohnt nicht weit in einem Häuserbloc­k. „Als ich zwölf Jahre alt war, wurde meinem Vater von seiner Firma eine Wohnung angeboten. Da beschlosse­n meine Eltern, ihre Jurte zu verlassen und in die Stadt zu ziehen“. Nur ihre große Schwester lebt weiterhin als Viehzüchte­rin in einer Jurte in den Bergen. „Wenn ich sie besuche, ist das wie Urlaub auf dem Bauernhof“, schwärmt Odonchimeg. „Das Leben in der Jurte ist viel schöner, aber eine Wohnung ist nun mal komfortabl­er.“

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FOTO: PIA HOFFMANN Das Jurtencamp liegt im Nationalpa­rk Terelj, rund 60 Kilometer östlich der mongolisch­en Hauptstadt Ulan-Bator.

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