Das Coronavirus hat die Welt im Griff. Mediziner und Pharmafirmen arbeiten mit intelligenten Therapieformen, doch viele Menschen können sie einstweilen trotzdem nicht retten. Warum nicht? Ein ausführlicher Überblick der aktuellen Faktenlage zu Sars-CoV-2
nach einer solchen Beatmung länger dauere; einer vollständigen, möglicherweise durch Reha-Maßnahmen begleiteten Genesung stehe jedoch in der Regel nichts im Wege. Bei schweren Covid-19-Verläufen gebe es für die Beatmung ohnehin keine Alternative: „Sie ist eine lebensrettende Maßnahme.“
Und dann noch eine Erscheinung bei schweren Verläufen, an denen die Fachleute herumrätseln: Das Virus ruft nämlich eine komplexe Reaktion des Immunsystems hervor. Diese kennt man ansonsten von Autoimmunerkrankungen, bei denen auch gesundes Gewebe nachhaltig geschädigt wird. Hierbei gibt es ein seltsam gravierendes Phänomen, das der Fachbegriff „Zytokinsturm“zutreffend bildhaft beschreibt: Hierbei entstehen hohe Konzentrationen bestimmter Eiweiße (Zytokine), die im ganzen Körper wie bei einem Unwetter mit massiven Entzündungsreaktionen verbunden sind.
Nun muss man dies alles, damit ein Virus nicht ungebührlich kriminalisiert oder gar dämonisiert wird, in Beziehung setzen zu anderen Erregern, mit denen wir ja nicht weniger zu tun haben. Schwere Influenza-Fälle haben unsere Intensivstationen erst kürzlich noch in Atem gehalten. Norovirus-Verläufe, die ganze Klinikstationen lahmlegen und ebenfalls tödlich enden können, kennen wir als dauerhaftes infektiologisches Hintergrundrauschen. Hirnhautentzündungen werden nicht selten von Herpes- oder FSME-Viren ausgelöst. Und mancher erinnert sich noch an die EHEC-Epidemie von 2011 mit schwersten blutigen Durchfällen, die durch einen gefährlichen Stamm des Darmbakteriums Escherichia coli ausgelöst wurde.
Tatsächlich kann man über das Corona-Geschehen nicht seriös schreiben, ohne es in Relation etwa zur schweren Influenza-Welle 2017/18 zu setzen. Sie hat uns nicht minder schwer geschlagen, mit (geschätzt) 25.000 Toten, die viele als gleichsam gottgegebene saisonale Heimsuchung hinnahmen. Vielleicht müssen wir tatsächlich lernen, mit Epidemien zu leben, weil gewisse Erreger die Gabe der Wandlungsfähigkeit besitzen und sich Jahr um Jahr in neuer Gestalt den Menschen und dessen Zellen als Wirt zur Vermehrung aussuchen.
Anderswo vertraut man darauf, dass – wenn es noch keinen Impfstoff gibt – der Mensch und sein Verhalten sein eigenes Gegenmittel sein könnten. Diese Einstellung hat etwas Stoisches, eine Form von epidemiologischem Urvertrauen, das man derzeit in Schweden erlebt, wo Politiker und Virologen auf das Phänomen der Herdenimmunität vertrauen, also die schnelle Durchseuchung der Gesellschaft, bei der viele Menschen infiziert sind und dadurch natürliche Immunität erlangen. Tatsächlich aber haben sich die Todesraten dort rasant entwickelt, ganz anders als in Norwegen oder Dänemark, und soeben hat Stockholm mit der Schließung erster Resraurants begonnen.
Auf der Internet-Seite www.euromomo.eu, die besonders hohe Werte von Sterblichkeit, die sogenannte Übersterblichkeit, abbildet, leuchtet es von Stockholm bis Göteborg mit tiefdunklen Zahlen (neben Belgien, Italien, Frankreich, Spanien oder Großbritannien). Die Betreuer der Seite schrieben: „Die Sterblichkeitsschätzungen zeigen weiterhin einen deutlichen Anstieg der Gesamtmortalität in den teilnehmenden europäischen Ländern, was mit der aktuellen globalen Covid-19-Pandemie zusammenfällt. Diese Gesamtübersterblichkeit ist jedoch auf eine sehr erhebliche Übersterblichkeit in einigen Ländern zurückzuführen, die hauptsächlich in der Altersgruppe von 65 Jahren und darüber, aber auch in der Altersgruppe von 15 bis 64 Jahren zu beobachten ist.“Covid-19 ist mitnichten ausschließlich eine Krankheit älterer Menschen. Wie andersherum aus intensivmedizinischer Erfahrung dieser Wochen dringend gesagt werden muss, dass es genügend sehr alte Menschen gibt, deren Konstitution so robust ist, dass ihnen das Coronavirus nur wenig oder gar nichts anhat. Oder dass sie sogar eine Intensivstation gehend wieder verlassen.
Die Crux aktuell ist, dass niemand die wahren Fallzahlen kennt, sondern nur die Zahl der Toten und der per Abstrich identifizierten und gemeldeten Infizierten. Gewiss wurde in Deutschland schon früh viel getestet, doch wurden die Daten nicht breit und offen genug dokumentiert. Ralf-Dieter Hilgers, Medizinstatistiker der Uniklinik Aachen, moniert das: „Eine systematische Sammlung aller Testergebnisse in Deutschland, sowohl der positiven (der Infizierten) als auch negativen (der Nicht-Infizierten) inklusive der Patientencharakteristik, wäre eine wichtige Quelle für strategische Entscheidungen, aber auch für die Information der Bevölkerung.“Hilgers plädiert für einheitliche Zählweisen, frei zugängliche Daten und deren fachgerechte Interpretation. Sonst entstehe nur Verwirrung und Verzerrung bei der Interpretation. „Und es droht die Gefahr der Verharmlosung der Effekte in Daten.“
In jedem Fall fehlt es an starken Daten über die Zahl der tatsächlich Infizierten im Verhältnis zu den Nicht-Infizierten. Das Meldegesetz schreibt Laboren nur vor, dass sie die positiv Getesteten, nicht aber die negativ Getesteten melden, was eine Unschärfe der Wahrnehmung erzeugt. Bald sollen diese Zahlen aber vorliegen, aus Heinsberg und anderen Messorten. Die Frage ist allerdings, ob und wie sie uns weiterbringen. Hilfreich wäre zu wissen, ob Menschen, die einmal infiziert waren, überhaupt dauerhaft oder nur teilweise immun sind. Jüngst trafen beunruhigende Nachrichten aus Fernost ein: dass angeblich Genesene plötzlich wieder Krankheitssymptome zeigten. Dieses Rätsel versuchen Mediziner derzeit zu lösen. Ein Erklärungsversuch: Das Coronavirus wandert ja vom Hals an abwärts. Eine zu frühe Gewinnung von Sekret aus der Lunge (etwa durch die bronchoalveoläre Lavage, eine Art Lungenspülung) bringt also häufig falsch-negative Ergebnisse, das gilt aber ebenso für späte Abstriche aus dem Rachen. Es ist denkbar, dass es bei jenen Patienten ein milderes Wiederaufflammen einer Krankheit gab, die noch nicht gänzlich auskuriert war. Wichtig ist auch die Kompetenz des Untersuchers: Wer noch nicht sehr oft abgestrichen hat, geht mit dem Wattestäbchen möglicherweise nicht weit genug. Tiefer Abstrich bedeutet aber: wirklich tief im Hals.
Die Welt wartet derzeit auf mehrere unterschiedliche therapeutische oder vorbeugende Optionen. Alle befinden sich in der Pipeline, vor Spekulationen sollte man sich hüten. Die Behandlung von Covid-19-Patienten mit Remdesivir führte in den USA nach ersten Nachrichten in den meisten Fällen zu einer deutlichen Besserung. Das antivirale Mittel, das die Vermehrung der Viren hemmen soll und gegen Ebola entwickelt wurde, besaß nach Einschätzung vieler Experten viel Potenzial. Zwei Kliniken aus den USA berichteten von angeblichen Erfolgen mit Remdesivir. Am Cesars-Sinai Medical Center in Los Angeles hatten es 53 schwer Erkrankte bekommen. Laut „New England Journal of Medicine“besserte sich bei 68 Prozent der Patienten der Zustand im Durchschnitt 18 Tage nach der ersten Gabe von Remdesivir, das injiziert wird. Allerdings kam es bei acht Patienten zu einer Verschlechterung, sieben von ihnen starben. Jetzt prüft man, ob Remdesivir nicht auch prognoseverschlechternd sein kann.
Der Aspekt schwer zu berechnender Nebenwirkungen hat das Malariamittel Chloroquin vermutlich aus dem Rennen katapultiert. Es kann in einem bestimmten Intervall des EKGs, nämlich der sogenannten QT-Strecke, lebensgefährliche Veränderungen in Form von Herzrhythmusstörungen hervorrufen. Man muss auch abwarten, was Tests mit dem Medikament Camostat ergeben: In Japan ist es zur Behandlung der chronischen Entzündung der Bauchspeicheldrüse zugelassen, hat aber in Zellkulturen den Eintritt des neuartigen SarsCoV-2 in spezielle Lungenzellen verhindert.
Es gibt freilich einfacher komponierte Ansätze, die an eine alte Methode erinnern, die schon bei der Spanischen Grippe angewendet wurde: Aus dem Blutplasma genesener Covid-19-Patienten können hochkonzentrierte Antikörper gewonnen werden und schwer erkrankten Patienten wie eine Passivimpfung verabreicht werden. Einige Unikliniken – darunter Düsseldorf, Köln und Münster – beginnen jetzt mit diesem Verfahren. Sie suchen Menschen, die nach einer Covid-19-Erkrankung wieder genesen sind und Blutplasma spenden möchten. Chinesische Ärzte haben die Methode bei Covid-19-Patienten ausprobiert. Von fünf schwer erkrankten Patienten in Shenzhen verbesserte sich bereits bei dreien der Zustand nach wenigen Tagen; beispielsweise sank ihr Fieber. Die beiden anderen waren noch länger intensivpflichtig, überlebten die Krankheit aber auch. Ein originärer Impfstoff zieht derzeit als Sehnsuchtsstreifen über den Horizont. Erste Tests haben begonnen, das Paul-Ehrlich-Institut hat eine erste Zulassung erteilt. Doch vor 2021 sollten wir keine voreiligen Hoffnungen hegen.
Wohin wird uns der Weg führen? Welcher ist der richtige? Einstweilen scheint eine Antwort, die allen Forderungen gerecht wird, unmöglich. Vieles spricht dafür, dass wir das bereits Gewonnene nicht durch vorschnelle Aufweichung der Spielregeln gefährden sollten. Doch die Macht der Wenn-dann-Modellierungen hat auch etwas Eisiges, unter deren Kälte Existenzen schneller wegfrieren könnten, als die Modelle zur Realität werden.
Zugleich hat sich die Medizin ins Aquarium begeben – alles so transparent plötzlich. Die Welt verfolgt gebannt, welche Fortschritte sie macht, und schwankt zwischen Panik und Euphorie. Die Spannungen dieser Tage sind jedoch kaum zu ertragen (dagegen sind Maskenpflicht, Abstandsregeln und Hygienegebote lächerlich einfach umzusetzen): die lungenkranke Oma, die ihre Enkelkinder nicht mehr sehen darf, was ihr vielleicht auf Dauer früher das Herz bricht, als sie an Corona erkrankt. Der sterbende Mann im Hospiz, der einsam auf den Tod warten muss, weil niemand ihn mehr besuchen darf. Diese Momente führen einem die ganze Traurigkeit der Lage vor Augen. Wie die Politik und wir selbst uns entscheiden: Es wird Opfer geben, die einen persönlich betreffen und die jenseits aller Statistik unvergesslich bleiben.