Jeder kann ein Held sein
Seit Wochen sehen wir die Welt mit anderen Augen. Selbstverständliches ist zur Ausnahme geworden. Respektvoller als früher nehmen wir zur Kenntnis, dass es Menschen gibt, die uns mit dem versorgen, was wir benötigen. Solche, die sich um jene kümmern, die wir vielleicht noch lange nicht besuchen dürfen – um die fernen Lieben, die womöglich leiden. Sie alle, die nicht so leicht ins sichere Homeoffice wechseln können, nehmen ein erhöhtes Risiko auf sich, als Verlierer aus dem tödlichen Roulette hervorzugehen, das das Leben gerade spielt. Gewiss, die Beschäftigten in Transport, Verkauf, Technik, Medizin, Pflege und vielen anderen Dienstleistungsbereichen machen ihren Job.
Doch nicht immer wird so klar wie jetzt, was das bedeutet. Krisen führen zu einem Wechsel der
Perspektive, wie er sonst selten gelingt.
Es zeigt sich in diesen Wochen zudem, dass Verantwortung gegenüber dem Nächsten in unserem wohlorganisierten Gemeinwesen nie völlig delegierbar ist an eine Allgemeinheit, die routiniert für humane Verhältnisse in der Gesellschaft sorgen soll. Wohl jeder vermag Beispiele zu nennen, wie ihm unerwartet Gutes widerfuhr oder er selbst den Impuls verspürte zu helfen. In einer solchen Zeit kann man zum Helden des Tages werden, wenn man bloß eine Packung Klopapier teilt. „We can be heroes just for one day”, lautet eine magische Botschaft der Pop-Ikone David Bowie.
Wenn Unruhe, Unsicherheit und Umwälzungen über uns kommen, schlägt die Stunde der großen und kleinen Helden. Je schlimmer die Lage, desto größer die Sehnsucht nach ihnen. Schon immer war den Starken, Mutigen, Selbstlosen Bewunderung sicher. Schon immer waren das Figuren, durch die sich die eigene Unzulänglichkeit kompensieren ließ. Ohne sie wäre das Kino, wären Romane undenkbar. In der echten Krise aber werden echte Menschen zu wirklichen Helden, weil ihnen durch Empathie oder auch bloß durch Pflichterfüllung etwas Außergewöhnliches gelingt: Sie schaffen es, anderen das Gefühl der Ohnmacht zu nehmen.
Superman oder Wonderwoman indes sind momentan gar nicht gefragt, obwohl es natürlich toll wäre, wenn jetzt einer von beiden mit einem Impfstoff für alle um die Ecke käme. Solange das nicht der Fall ist, geht es darum, das Dasein so erträglich wie möglich zu machen. Mehr Freundlichkeit, mehr Hilfsbereitschaft und mehr Verständnis helfen im Alltag des Ausnahmezustands ungemein weiter: Wer für die älteren Nachbarn einkaufen geht, Masken für Kollegen näht, mit kreativen Ideen Spenden sammelt für die, die über Nacht bedürftig wurden, rettet nicht die Welt, aber manchem den Tag.
Im Grunde leben wir im Westen in einem Zeitalter, für das der Historiker Herfried Münkler den Begriff „postheroisch“geprägt hat. Helden, deutsche zumal, waren viel zu oft tote Helden, millionenfach verheizt in den irren Schlachten der Weltkriege. Ihr „Heldentod“blieb ein untauglicher Versuch, dem sinnlosen Sterben irgendeinen Sinn zu geben. „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat!“, lässt dementsprechend Bertolt Brecht den Physiker Galileo Galilei in seinem Theaterstück „Leben des Galilei“sagen.
Die Opfer- und Leidensbereitschaft in der Bevölkerung hat nach 1945 jedenfalls spürbar abgenommen. „Nun siegt mal schön“, rief der erste Bundespräsident, Theodor Heuss, 1958 den ersten Soldaten der neuen Bundeswehr bei einem Truppenbesuch ironisch zu. Ein Satz, der die Abkehr vom alten Heldenverständnis markiert.
Seit jeher ist der Begriff des Helden mit großer Ambivalenz verbunden. Helden verletzen oft Regeln. Dieselbe Person kann von den einen heroisiert, von den anderen als Terrorist verdammt werden. An der Umweltaktivistin Greta Thunberg scheiden sich die Geister. Jeder