Rheinische Post Ratingen

„Wir müssen endlich ernst machen“

Der Mediziner, Historiker und Soziologe prangert Versäumnis­se in der Gesundheit­svorsorge an.

- VON UWE-JENS RUHNAU

DÜSSELDORF Alfons Labisch pendelt zwischen seiner Geburtssta­dt Aachen und Düsseldorf, wo er Rektor der Heinrich-Heine-Universitä­t (HHU) und Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin war. Die Epi- und Pandemien sind sein Lebensthem­a, mit Heiner Fangerau hat er das so lesenswert­e wie verständli­che Buch „Pest und Corona“geschriebe­n. Fangerau ist Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der HHU.

Herr Labisch, vor acht Wochen haben Sie gesagt, Sie achteten auf Handhygien­e, Abstand halten, Sie niesten in die Armbeuge und mieden Versammlun­gen. Von Mundschutz haben Sie nichts gesagt, tragen jetzt aber einen. Warum? LABISCH In Ostasien ist es üblich Mundschutz zu tragen – unter dem Gedanken, den anderen zu schützen. Anfang März, als unsere chinesisch­en Lehrer im Konfuzius-Institut begannen Mundschutz zu tragen, haben wir ihnen gesagt: Lasst das bitte, ihr erschreckt unsere deutschen Schüler. Ich bin dankbar, dass auch für uns ein Mundschutz normal wird. Mit den aktuellen Lockerunge­n geht einher, dass wir mehr Rücksicht nehmen müssen. Je mehr wir uns begegnen können, umso mehr müssen wir den anderen schützen.

Sie sind Professor in Peking. Wollen Sie denn wieder dorthin reisen? LABISCH Ich wäre Ende Februar bis Anfang April in Peking gewesen, mein Turnus an der Universitä­t stand an. Dann kam die Botschaft, dass alles gesperrt ist. Mein nächster Turnus ist von Ende September bis Anfang November. Ich hoffe, dass die Situation bis dahin so bereinigt ist, dass ich ohne große Schutzvork­ehrungen reisen kann. Sollte sich an den Flug eine Quarantäne anschließe­n müssen, würde ich verzichten.

Dann fahren Sie dieses Jahr halt nicht.

LABISCH Genau. Ich bin mit meinen Freunden und Kollegen über das Internet verbunden und habe gerade einen kleinen Vortrag für meine Studenten als Video übermittel­t. Ich werde unser neues Buch über Pandemien in der chinesisch­en Presse im Gespräch mit meinen Kollegen vorstellen, in der Universitä­t zum Gegenstand von Seminaren, Übungen und Vorlesunge­n machen und gemeinsam mit Kollegen und den Doktor-Studenten ins Chinesisch­e übersetzen.

China wird auch im eigenen Land der Vorwurf gemacht, in der Anfangspha­se der Epidemie nicht offensiv genug agiert und informiert zu haben. Was sagen Sie dazu? LABISCH Hier sind zwei Phasen zu unterschei­den. In der Anfangspha­se bis zum 30. Dezember, als China an das lokale Büro der Weltgesund­heitsorgan­isation gemeldet hat, dass dort Corona-ähnliche Lungenkran­kheiten vorkämen, war etwas zu beobachten, das bei jeder schweren Seuche geschieht: Hamburg 1892 oder die Grippeepid­emie 1918 sind solche Beispiele. Wer eine solche Botschaft in die Welt bringt, hält das ganze Land an. Der Arzt Li Wenliang hat privat Kollegen alarmiert. Ihm ist daraufhin von den Ordnungsbe­hörden der Mund verboten worden – übrigens in einer Zeit, in der die zuständige­n Hygienebea­uftragten der Krankenhäu­ser die Krankheit schon offiziell gemeldet hatten. Der Oberste Gerichtsho­f Chinas hat das Verhalten der Ordnungsbe­hörden gegenüber Li Wenliang, der leider im Februar an Sars verstarb, öffentlich zurechtgew­iesen. Für mich ist Li Wenliang ein vorbildlic­her Arzt.

Und die andere Phase?

LABISCH Diese betrifft die nach den ersten Januartage­n 2020. Die renommiert­en chinesisch­en Sars-Experten, die ständig in internatio­nalen Top-Journalen auf Englisch über die Epidemie in China berichten, sagen einmütig, dass zwischen Jahresanfa­ng und den totalen Sperren in Wuhan und Hubei zu viel Zeit verstriche­n ist. Es hat sich offenbar niemand getraut, Stadt und Region völlig abzusperre­n, bis die oberste Staatsmach­t die Sache in die Hand genommen hat. Da sind wir an einem entscheide­nden Punkt öffentlich­er Gesundheit­ssicherung: Die Experten sind nicht an den Hebeln der Staatsgewa­lt – und das ist auch gut so: Dies ist eine Aufgabe der Politik und der Verwaltung und nicht von Ärzten. Der verantwort­liche Regierende von Wuhan hat selbst eingeräumt, dass bis zum Lockdown fünf Millionen Menschen ein- und ausgereist sind. Unvorstell­bar. Danach ist die Krankheit in ganz China ausgebroch­en und hat sich schnell weltweit verbreitet.

Deutschlan­d hat einreisend­e Chinesen am Flughafen im Januar nicht auf eine Erkrankung untersuche­n wollen. Es gab Virologen, die dazu geraten haben. Sollten solche Maßnahmen durchgefüh­rt werden, wenn sich eine neue Krankheit durch Ansteckung ausbreitet, egal aus welchem Land?

LABISCH Wir waren damals noch der Auffassung, wir können die Epidemien mit klassische­n Methoden eingrenzen. Wir haben Dinge nicht getan, die wir aus heutiger Sicht unbedingt hätten tun müssen. Aber „Hätte - Hätte ...“gibt es in der Medizin

nicht: Es gilt jeweils der Status quo.

Bei der Virusgripp­e 1995/96 gab es ca. 30.000 Tote. Es hat kaum jemanden aufgeregt. Warum? LABISCH Das ist eine schwierige Frage. 1958/’59 gab es diese Zahlen ebenfalls, in den Sechzigern und auch jüngst wieder in den vergangene­n vier Jahren. Warum regt uns das nicht auf? Damit sind wir bei der Unterschei­dung „skandalisi­erte Krankheite­n“und „echte Killer“. Die Virusgripp­e scheint ein echter Killer zu sein, der nicht skandalisi­ert wird. Ich habe mir Bilder aus der Grippezeit Ende der fünfziger Jahre angesehen, Schwarz-Weiß-Bilder, die uns aus großer Distanz entgegense­hen. Ich glaube, dass wir damals noch tief in der Nachkriegs­zeit steckten. Die Lohnfortza­hlung war neu und es wurde sich öffentlich darüber aufgeregt, dass so viele Menschen krankfeier­ten. Dass so viele starben, hat kaum jemand wahrgenomm­en. Die Virusgripp­e ist ein heimliches Dahinsiech­en – siehe die vergangene­n Jahre. Die Cholera des 19. Jahrhunder­ts hatte dagegen niedrige Sterblichk­eitsraten, wurde aber skandalisi­ert. Denn wenn sie auftritt, sterben die Menschen innerhalb von wenigen Stunden.

Die Frage führt auch zu einem heiklen Punkt: Halten Sie in unserem Land eine Ethik für möglich, die zigtausend Virus-Tote als hinnehmbar­en Kollateral­schaden einer gesunden Wirtschaft hinnimmt?

LABISCH Unter gar keinen Umständen. Es würde einen Aufschrei geben. Es ist gleich, ob alte Menschen mit Vorerkrank­ungen sterben oder junge Menschen ohne Vorerkrank­ungen – beides kann vorkommen. Wenn wir das zulassen, werden wir uns anschließe­nd fragen, ob der moralische nicht größer ist als der wirtschaft­liche Schaden? Dass wir jetzt den Lockdown haben, hat damit zu tun, dass wir erst nach und nach erkannt haben, was zu tun ist. Die entscheide­nde Frage lautet, ob wir uns einen Lockdown ein zweites Mal leisten können.

Sie haben die Geschichte der Epiund Pandemien erforscht. Was macht die jetzige Corona-Pandemie besonders?

LABISCH Das unberechen­bare Virus. Wir hatten zwei Möglichkei­ten, uns auf das Virus vorzuberei­ten. Das waren die Sars-Epidemie 2002/’03 und die Mers-Epidemie aus dem Nahen Osten 2012, beide verursacht durch Coronavire­n. Das jetzige Virus ist hochaggres­siv und verbreitet sich sehr schnell, vor allem, bevor bei Infizierte­n Symptome auftreten, und weiterhin durch „silent carrier“– also Menschen, die zwar infiziert, aber nicht krank sind. Wenn man die Entwicklun­g laufen ließe, bräche nicht nur die gesundheit­liche Versorgung zusammen, sondern angesichts der katastroph­alen Bilder auch das moralische Gleichgewi­cht einer Gesellscha­ft.

Ihr neues Buch hat den Titel „Pest und Corona“. Müsste es wegen der ähnlichen Art der Verbreitun­g nicht eher „Cholera und Corona“heißen? LABISCH Sie haben recht, das war unser Vorschlag. Die Cholera hat sich im 19. Jahrhunder­t durch die zunehmende internatio­nale Reisetätig­keit verbreitet, Zeit und Raum schrumpfte­n. Das ist die Parallele zur Pandemie heute. Unser Lektor meinte aber, die ikonische Seuche, bei der alle Welt zusammenzu­ckt, ist die Pest.

Gibt es die Pest denn noch?

LABISCH Pest gibt es immer wieder. Die Erreger leben in Flöhen auf kleinen Pelztieren, wie Ratten und anderen kleinen Nagern wie etwa Wühlmäusen. Die Tiere selbst sind nicht krank. Es kommen jedes Jahr 1000 bis 2000 Pestfälle vor, etwa in den Steppen Chinas/Südrusslan­ds oder in den Savannen der USA, aber auch anderswo. Die Pest breitet sich nicht aus, weil die Fälle sofort eingegrenz­t werden.

Die Erreger wandeln sich. Müssen wir damit rechnen, jetzt dauerhaft mit Coronavire­n zu leben?

LABISCH Auf jeden Fall. Das ist die Hauptaussa­ge. Wir haben jetzt die dritte Corona-Welle seit dem Jahrtausen­dbeginn – und zwar fast im Rhythmus von zehn Jahren. Die nächste Epidemie kommt bestimmt, wir müssen endlich ernst machen und uns rechtzeiti­g auf die nächste Epidemie vorbereite­n. Evaluation­en, ohne Konsequenz­en zu ziehen, nutzen nichts. Der Bundestag hatte das Thema Sars-Epidemie 2012 auf der Tagesordnu­ng, es wurde aber nichts unternomme­n. Das kommt uns heute teuer zu stehen. Im 19. Jahrhunder­t hat man die Seuchen in den Griff bekommen, die durch Industrial­isierung und Imperialis­mus weltweit verbreitet wurden, Cholera, Pest, Gelbfieber. Unsere Aufgabe heute ist herauszufi­nden, was uns in den gleichen Stand setzt. Vor allem kennen wir nicht einmal gesichert das Reservoir der jetzigen Pandemie. Es könnten Fledermäus­e – wohl das größte Virenreser­voir überhaupt – sein, die die Krankheit aber nicht übertragen. Als Zwischenwi­rt werden Gürteltier­e oder – wahrschein­licher – Marderhund­e genannt, die es in China auf Lebendtier­märkten zu kaufen gibt.

Sie sagen, manche Politiker verbreiten Katastroph­enrhetorik. Ministerpr­äsident Armin Laschet hat erst gesagt, es gehe um Leben und

Tod, jetzt setzt er sich für Lockerunge­n ein. Kommt dieser Schwenk zu früh?

LABISCH Ich kann den Disput verstehen, wäre persönlich aber mit den Lockerunge­n sehr vorsichtig. Wir sollten den Vorsprung, den wir haben, nicht leichtsinn­ig verspielen.

Sie stellen Ihrem Buch Sätze Max von Pettenkofe­rs voran. Er hat 1873 sinngemäß gesagt, man dürfe für eine Epidemie nicht den freien Verkehr der Gesellscha­ft unterbrech­en. Das Zitat spielt den Kritikern der Einschränk­ungen in die Hände. Wo sehen Sie langfristi­g Ansätze für eine Strategie, die unsere Art zu leben im Pandemiefa­ll schützt? LABISCH Dieses Gebot halte ich für das erste Gebot überhaupt: Unser Ziel ist, unsere Lebensweis­e zu erhalten. Wir sind jetzt von SARS überrascht worden. Das hätte nicht sein müssen. Hier gilt die alte Erfahrung: Was ich vorne nicht erledigt habe, muss ich hinterher mit dem Holzhammer zurechtbie­gen. Oder anders: Wir haben die Kosten für eine gute Vorbereitu­ng gescheut und müssen jetzt das Vielfache an Schulden eingehen. Das darf uns nicht noch einmal passieren.

Sie sagen, wir Menschen schaffen und verbreiten die Krankheite­n selbst. Sollten wir weltweit auf Lebendtier­märkte verzichten, wo das Virus auf den Menschen überspring­en kann?

LABISCH Das Beste ist es, das Virus an seinem Entstehung­sort einzudämme­n. Die großen Landrodung­en in Südamerika oder neue landwirtsc­haftliche Flächen in Afrika sind wegen der Ausbreitun­g der Nagetiere oder das Vordringen in ehemalige Urwaldgebi­ete ebenso Gefahrenqu­ellen, wie verschiede­ne Spezies gemeinsam aufzuziehe­n. Das Huhn an sich ist kein Problem, das Schwein an sich auch nicht, durch gemeinsame Aufzucht für den Fleischmar­kt konnte 2009/’10 in den USA die weltweite Schweinegr­ippe entstehen. Wir benötigen eine weltweite offene und vorbehaltl­ose Diskussion über die Ursachen und die Verbreitun­g von Seuchen, vor allem auch auf wissenscha­ftlichem Gebiet. Und die Lebendtier­märkte sollten bald der Vergangenh­eit angehören. Lebendtier­märkte, wo viele verschiede­nste Spezies und viele Menschen auf engstem Raum zusammen sind, sind Höllenpfuh­ls. Es wäre für Bakteriolo­gen und Virologen wohl ein Freudenfes­t zu untersuche­n, was auf diesen Märkten bakteriolo­gisch und virologisc­h los ist.

Sie schlagen Früherkenn­ungs- und Isolations-Infrastruk­turen an Flughäfen vor.

LABISCH Die großen Schifffahr­tsstraßen trugen im 19. Jahrhunder­t und tragen auch in der globalisie­rten Welt zur Verbreitun­g der Erreger bei. Dies gilt noch mehr für die großen Drehkreuze des Flugverkeh­rs. Im Juni 2019 gab es weltweit 225.000 Flugbewegu­ngen an einem Tag. An den großen Flughäfen wie Atlanta, Peking, London oder Frankfurt müsste im Pandemiefa­ll strenger kontrollie­rt werden. Menschen, die man für infektions­fähig hält, sollten auf den Flughäfen festgehalt­en und in Quarantäne gebracht werden können. Die Fiebermess­geräte sind leider ineffizien­t, man müsste Schnelltes­ts entwickeln. Wohl utopisch, aber durchaus denkbar wäre es, dass jeder Fluggast kurz vor einem Flug einen Test machen müsste. Nur wenn dieser negativ ausfiele, dürfte der Fluggast an Bord. Zudem sollte auch unser Land die weltweiten elektronis­chen Möglichkei­ten und Standards nutzen. Noch wichtiger ist für mich aber das freiwillig­e Handeln der Menschen: Es gilt, die anderen zu schützen – das ist das Gebot der Stunde.

Lesen Sie das Interview in voller Länge auf rp-online.de/duesseldor­f

 ?? RP-FOTO: ANDREAS BRETZ ?? Alfons Labisch beim Interview. Er war Rektor der Heinrich-Heine-Universitä­t und ist heute Professor in Peking.
RP-FOTO: ANDREAS BRETZ Alfons Labisch beim Interview. Er war Rektor der Heinrich-Heine-Universitä­t und ist heute Professor in Peking.

Newspapers in German

Newspapers from Germany