Rheinische Post Ratingen

Eine Chance für Merkels Europa

Deutschlan­d übernimmt am 1. Juli für sechs Monate die EU-Ratspräsid­entschaft. Die Corona-Krise hat das lange geplante Programm zunichte gemacht. Doch Krisenmana­gement zählt zu den Fachgebiet­en der Kanzlerin.

- VON KRISTINA DUNZ

Schon vor Monaten, als die Menschen Corona mit der lateinisch­en Übersetzun­g für Krone und einem schönen Frauenname­n, aber nicht mit einer Krise assoziiert­en, wurde im Kanzleramt über Chancen und Risiko zum Ende der Ära Merkel beraten. Theoretisc­h könne die deutsche EU-Ratspräsid­entschaft im zweiten Halbjahr 2020 der krönende Abschluss der 16-jährigen Kanzlersch­aft der CDU-Politikeri­n werden, hieß es. In der Praxis sei die Politik aber voller Überraschu­ngen, auch voller böser. Und bei aller Erfahrung müsse Erfolg immer neu erkämpft werden. Wenn es schlecht laufe und Merkel in Brexit-Zeiten die EU nicht zusammenha­lte, bliebe das als Letztes von ihr in Erinnerung: eine zum Schluss machtlose Frau, die ihren Zenit lange vorher überschrit­ten habe.

Nun, wenige Wochen vor der Übernahme des Vorsitzes im Rat der EU, hat sich die These mit den Überraschu­ngen bestätigt. Aber noch nicht die Befürchtun­g. In Merkels Umfeld stellt sich nun nur die Frage: Ist die Corona-Krise eher Glück oder Pech für die Kanzlerin, die ihren Abschied von der Politik spätestens mit der Bundestags­wahl 2021 angekündig­t hat? Alle zum Teil zwei Jahre langen Vorbereitu­ngen, stehen jetzt auf dem Prüfstand. „Das heißt also, die deutsche Ratspräsid­entschaft wird anders ablaufen, als wir uns das vorgenomme­n hatten“, stellt Merkel fest. Vieles wird wohl gestrichen. Solange es keinen Impfstoff gebe, werde die Pandemie das Leben in Europa bestimmen, sagt sie – das heißt, solange Deutschlan­d die Ratspräsid­entschaft hat. Denn es ist unwahrsche­inlich, dass bis Jahresende ein Impfschutz gefunden sein wird. „Die Präsidents­chaft wird eine Corona- oder Postcorona-Präsidents­chaft“, sagt der Leiter der Forschungs­gruppe EU/Europa der Stiftung Wissenscha­ft und Politik (SWP), Oliver Geden.

Was die Präsidents­chaft erst einmal trüben wird: kein Glanz, keine schönen Bilder. Statt traditione­ller Gipfel mit Tausenden Politikern, Experten, Beratern und Journalist­en steht anstrengen­de Arbeit in digitalen Schalten an, soweit die technisch überhaupt machbar sind. Zumindest bis zum 31. August sind zur Eindämmung der Corona-Pandemie Großverans­taltungen verboten. Auch der für Mitte September geplante EU-China-Gipfel in Leipzig, mit dem das Verhältnis zu Peking verbessert werden sollte, wackelt. Fast alle EU-Entscheidu­ngen müssen mittlerwei­le im Trilog-Verfahren getroffen werden – also von EU-Parlament, EU-Kommission und EU-Rat. Aber: „Derzeit bestehen noch keine technische­n Voraussetz­ungen für politische Triloge per Videokonfe­renz“, zitiert die Nachrichte­nagentur Reuters aus einem Leitfaden für die Zusammenar­beit mit dem EU-Parlament.

Merkel hat immer gesagt, der eigentlich­e Mehrwert von internatio­nalen Gipfeln – ob auf EU-, Nato-, G7oder G20-Ebene – sei das persönlich­e Gespräch. Oft wurden Konflikte gelöst, indem in kleinen Gruppen, im „Beichtstuh­lverfahren“, weiterverh­andelt wurde. Die Griechenla­ndhilfen, das EU-Türkei-Flüchtling­sabkommen, die Klimaschut­zziele – viele dramatisch­e Sitzungen wurden nachts notfalls unter vier Augen gerettet.

Apropos Klima. Neben der Digitalisi­erung, der Rechtsstaa­tlichkeit und dem Ärger mit Polen und Ungarn, dem Austritt Großbritan­niens aus der EU und den Verhandlun­gen über einen billionens­chweren EU-Finanzrahm­en bis 2027 war bisher auch die Klimakrise Topthema der deutschen Ratspräsid­entschaft. Und sie wird das trotz Corona-Krise auch bleiben. Merkel sagt zwar, dass nun die wirtschaft­liche Entwicklun­g und der soziale Zusammenha­lt in Europa im Vordergrun­d stünden, aber Klimafrage­n blieben genauso auf der Tagesordnu­ng wie die Gesundheit­sfragen.

Man müsse an die Zukunft denken. „Und das sind die Klima- und Umweltfrag­en.“

Oliver Geden, dessen Forschungs­gebiete EU, Klimapolit­ik und EU-Energiepol­itik sind, ist sicher: „Deutschlan­d wird dafür sorgen, dass der Klimaschut­z nicht unter die Räder kommt.“Allerdings ist ihm nicht klar, wie die EU das Ziel von Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen mit Emissionsr­eduktionen von 55 Prozent bis 2030 erreichen könnte. „Das wäre ein großer Sprung. Man kann sich kaum vorstellen, wie die EU das schaffen will.“Merkel müsse mit den anderen Regierungs­chefs darüber verhandeln. Und das sei schwierige­r als die Bewältigun­g der Pandemie. „Die Politik hat für die Klimakrise auch nichts im Köcher, was mit den Maßnahmen der vergangene­n Wochen vergleichb­ar wäre.“Mundschutz­masken richteten gegen die Klimakrise nichts aus.

Als allerletzt­es Mittel gelte in Teilen der Klimaforsc­hung eine drastische, aber gegen den Temperatur­anstieg effektive Interventi­onsform. „Künstlich hergestell­te Partikel würden mit Flugzeugen 15 Kilometer hoch in der Luft ausgebrach­t, einen kleinen Teil der Sonneneins­trahlung reflektier­en und damit die Energiezuf­uhr von außen senken“, erklärt Geden. Geredet werde darüber nur wenig, weil Politiker wie US-Präsident Trump oder Brasiliens Staatschef Bolsonaro sonst denken könnten, „dass man die Emissionen gar nicht senken muss“. Einen Vorteil gebe es bereits durch die Bekämpfung des Coronaviru­s. „Die Corona-Krise hat gezeigt, was alles mobilisier­t werden kann. Das ist verblüffen­d, wenn man sich daran erinnert, dass die Schuldenbr­emse bis dato große Investitio­nen in den Klimaschut­z verhindert hat.“Es zeige sich auch wieder, dass Parteien mit Krisenmana­gement hohe Zustimmung­swerte erreichten, nicht aber mit Krisenpräv­ention.

Die Union liegt in Umfragen fast bei 40 Prozent. Und Merkels Fachgebiet ist: Krisenmana­gement. Die Frage im Kanzleramt könnte also, so makaber es klingt, so beantworte­t werden: Die Corona-Krise ist für die Ratspräsid­entschaft eher ein Glück.

„Die Präsidents­chaft wird eine Corona- oder Postcorona-Präsidents­chaft“

Oliver Geden Wissenscha­ftler

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