Rheinische Post Ratingen

Auf dem Weg zum Sarrazin der Grünen

Tübingens Oberbürger­meister Boris Palmer bringt mal wieder seine Partei zur Verzweiflu­ng – mit Äußerungen über hochbetagt­e Corona-Kranke. Die Grünen haben ihm die Unterstütz­ung entzogen. Droht ihm jetzt der Ausschluss?

- VON HOLGER MÖHLE

TÜBINGEN/BERLIN Der Geist ist aus der Flasche. In diesem Fall der Poltergeis­t. Und Boris Palmer bekommt ihn so schnell nicht wieder eingefange­n. Wieder einmal hat der Oberbürger­meister von Tübingen die Öffentlich­keit provoziert, den politische­n Gegner munitionie­rt und die eigene Partei entsetzt. „Ich sag es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten möglicherw­eise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“, hatte Palmer, der lange als Realo-Nachwuchsh­offnung für einen Spitzenpos­ten im Bund galt, Ende April in einem Fernsehint­erview in der Debatte über Corona-Lockerunge­n gesagt. Patientenv­erbände reagierten aufgebrach­t. Mehr als 100 Grüne warfen ihrem Parteifreu­nd aus Tübingen in einem offenen Brief „Sozialdarw­inismus“vor.

Grünen-Chef Robert Habeck hatte Ende vergangene­r Woche, angesproch­en auf die jüngsten Äußerungen von Palmer, noch gesagt, er schließe sich der Kritik an: „Seine Äußerungen waren falsch und herzlos. Es ist wichtig, dass er sich mittlerwei­le dafür entschuldi­gt hat.“Fast hörte es sich so an, als sei die Sache damit erledigt.

Doch zu Wochenbegi­nn packten sowohl der Bundesvors­tand um die beiden Vorsitzend­en Habeck und Annalena Baerbock als auch der Landesvors­tand in Palmers Heimatverb­and Baden-Württember­g die ganz dicke Keule aus. Sie entzogen dem 47-Jährigen die Unterstütz­ung der gesamten Partei für eine Kandidatur bei der nächsten Tübinger Oberbürger­meister-Wahl 2022.

Selbst der Kreisvorst­and der Tübinger Grünen distanzier­te sich in aller Form. Palmers Aussagen seien „nicht mit den Grundsätze­n und der Programmat­ik unserer Partei vereinbar“und schadeten den Grünen. Weiter heißt es in der schriftlic­hen Erklärung: „Der Kreisvorst­and Tübingen wird Boris Palmer bei Kandidatur­en um politische Ämter nicht mehr unterstütz­en. Über weitere

Schritte werden wir in enger Abstimmung mit dem Landesvors­tand beraten.“Ein Parteiauss­chlussverf­ahren, das nun von einigen Grünen ins Gespräch gebracht wird, ist damit nicht explizit angesproch­en. Doch die Tübinger Grünen halten sich alle Optionen offen.

Palmer ist dabei, zu einer Art Thilo Sarrazin der Grünen zu werden. Immer wieder eckte der ehemalige Waldorfsch­üler, Sohn eines Obstbauern, auch in seiner eigenen Partei an. Einmal störte er sich an einer Werbekampa­gne der Deutschen Bahn, die überwiegen­d Fahrgäste, meist Prominente, mit nicht-weißer Hautfarbe zeigte. Irritiert fragte Palmer: „Welche Gesellscha­ft soll das abbilden?“In der Asyl- und Flüchtling­spolitik vertritt Palmer schon länger eine grüne Minderheit­sposition. So trat er im Spätsommer 2015 wegen der vielen Flüchtling­e und „überlastet­en Aufnahmeka­pazitäten“dafür ein, Abschiebun­gen mitzutrage­n und sichere Herkunftsl­änder neu zu definieren. Deutschlan­d habe „nicht Platz für alle“.

Palmer selbst will nun versuchen, mit einem Schreiben an die Parteispit­ze die Wogen um seine Äußerungen und seine Person zu glätten. Er sagte unserer Redaktion: „Ich bin sehr enttäuscht darüber, denn ich fühle mich komplett falsch verstanden, dass das Gegenteil meiner Absichten zur Grundlage der Kritik gemacht wurde. Mir ging es darum, durch einen besseren Schutz der Risikogrup­pen, insbesonde­re der Alten, weniger Leben zu verlieren und gleichzeit­ig weniger Opfer in den armen Ländern der Welt, insbesonde­re durch Kinderster­blichkeit, hinzunehme­n.“Das sei ein Gedanke,

der „komplett mit dem grünen Programm und den grünen Werten“übereinsti­mme. Und schließlic­h: „Ich bin sehr enttäuscht, dass mir stattdesse­n Euthanasie und Sozialdarw­inismus vorgeworfe­n wird.“

Palmer kündigte an, er werde den Kontakt zu den Parteispit­zen in Bund und Land suchen. „Ja, natürlich, ich werde schreiben und noch einmal darlegen, dass die mir zu Last gelegten Vorwürfe falsch sind und dass ich für etwas verurteilt werde, das ich nicht getan habe.“

Er ließ explizit offen, ob er 2022 bei der nächsten Oberbürger­meister-Wahl in Tübingen noch einmal kandidiere­n werde. „Ich bin überhaupt noch nicht entschiede­n, ob ich überhaupt nochmal eine dritte Amtszeit anstrebe.“16 Jahre seien „schon eine lange Zeit als Oberbürger­meister“. Er fügte hinzu: „Ob in zwei Jahren dieser in sein Gegenteil verkehrte Satz wirklich ausschlagg­ebend ist, wenn die Grünen überlegen, wer dieses Amt am besten führen kann, das würde ich gerne auch noch einmal sehen.“

 ?? FOTO: DPA ?? Boris Palmer im Tübinger Rathaus.
FOTO: DPA Boris Palmer im Tübinger Rathaus.

Newspapers in German

Newspapers from Germany