Rheinische Post Ratingen

Musizieren mit Abstand

Zahlreiche Chöre und Orchester sind derzeit zur Tatenlosig­keit verurteilt. Aber für alle gibt es intelligen­te Auswege aus der Krise.

- VON WOLFRAM GOERTZ

DÜSSELDORF Die Wiener Philharmon­iker machen ihre Aufwartung, da ziehen Zuhörer etwas Elegantes an. Sie hat sich ein todschicke­s Kleid, er einen neuen Anzug zugelegt; für das Violinkonz­ert von Tschaikows­ki ist das die perfekte Garderobe. In der Pause werden sie ein Piccolöche­n prickeln lassen, bis als Finale Schumanns „Rheinische“erklingt.

Momentan erklingt überhaupt nichts. Die Corona-Krise hat die Klassik hart getroffen, Chöre singen und Orchester proben nicht mehr, Konzerte fallen reihenweis­e aus, Zuhörer müssen ihre Tickets zurückgebe­n oder sich mit einem Ersatzterm­in im Spätherbst anfreunden. Da zerbrechen Rituale und schöne Gewohnheit­en, manchen wird ein aparter Zeitvertre­ib, anderen ein Lebensinha­lt geraubt.

In der Not haben Künstler Behelfsang­ebote organisier­t, der Pianist Igor Levit sendet via Twitter aus seinem Wohnzimmer und versammelt eine anonyme Gemeinde, Intendante­n stellen alte Konzerte ins Internet oder packen historisch­e Opernabend­e auf ihre Website. Es ist ein Künstlertu­m aus dem Archiv, mit reduzierte­r Alltagstau­glichkeit.

Jetzt haben die ersten Orchester wieder begonnen, Konzerte live im Internet zu geben und gleichzeit­ig Abstandsre­geln zu berücksich­tigen. Die Berliner Philharmon­iker haben soeben ein klanglich abgespeckt­es Europa-Konzert unter Kirill Petrenko über ihre „Digital Concert Hall“ausgestrah­lt, die Düsseldorf­er Symphonike­r haben die verwaiste Tonhalle mit einem klingenden Abend aus Kleingrupp­en reanimiert. Überall waren Hausmeiste­r und Putzkolonn­en im Einsatz, die Musiker wurden in Gruppen separiert und traten mit gehörigem räumlichen und zeitlichen Abstand auf.

Doch auf der Bühne wurde die ganze Misere offenkundi­g. Statt im Kollektiv wirkten die Künstler als Kammermusi­ker, jeder ein Solist mit ungewöhnli­ch viel Aktionsrau­m für den Bogenarm und den Zugriegel der Posaune. Der Abstand zum Nachbarn wurde vorher mit dem Zollstock ausgemesse­n, besonders viel Luft bekamen die Bläser.

Nun gibt es derzeit zahllose Studien, die sich mit dem Coronaviru­s beschäftig­en. Aber zur Übertragun­gsfähigkei­t von Viren beim Musizieren und Singen fehlt es an Daten. Allerdings gibt es schauerlic­he Berichte von Chören, bei denen eine Probe ausreichte, um fast die komplette Belegschaf­t zu infizieren. Wie konnte das passieren? Und gäbe es überhaupt Richtwerte für ein öffentlich­es Musizieren?

Beim Singen ist die Sache klar. Wer singt, verbreitet Tröpfchen und Aerosole, die Viren transporti­eren können. Beim Singen können sie in riesiger Zahl durch die Luft fliegen, wobei einige Parameter spielentsc­heidend werden, etwa Raumfeucht­igkeit oder Luftzirkul­ation. Je feuchter die Luft, desto schwerer die Tröpfchen; umso schneller sinken sie zu Boden. Bei trockener Luft können Aerosole über mehrere Minuten und Meter durch den Raum schweben und sich zu Wolken verdichten. In Corona-Zeiten spielen auch Aerodynami­k und Meteorolog­ie eine Rolle. Die Frage ist: Wie weit fliegen Viren?

Das Freiburger Institut für Musikermed­izin hat dieser Tage eine eher provisoris­che Risikoeins­chätzung vorgelegt und auf einen wichtigen Aspekt hingewiese­n: Möglicherw­eise werden Viren beim Musizieren gar nicht so stark aktiviert. Anderersei­ts wird viel Schleim produziert, der sich aus dem Instrument oder aus dem Sängerhals absetzt. Die Experten schreiben: „Der für die Allgemeinb­evölkerung geltende Abstand von 1,5 bis zwei Metern sollte für die Musikausüb­ung mit anderen Personen durch Vergrößeru­ng auf drei bis fünf Meter deutlich übererfüll­t werden, um hierdurch das Infektions­risiko zu verringern. Zudem kann vermutlich in sehr großen Räumen wie Konzertsäl­en durch weitere Maximierun­g des Abstandes und durch eine sehr gute Belüftung das Risiko zusätzlich verringert werden.“

Und dann gilt ja auch die Vermutung, dass Quer- und Piccoloflö­ten (ohne umschließe­ndes Mundstück) deutlich mehr potenziell gefährlich­e Tröpfchen an die Umgebung abgeben als etwa Trompete oder Horn (die anderersei­ts regelmäßig Wasser aus ihren Instrument­en auf den Fußboden ablassen).

Über Chöre meinen die Freiburger Ärzte: „Bereits in kleinen Chorformat­ionen von mehr als fünf Sängern ist davon auszugehen, dass sich das Infektions­risiko durch die im Raum befindlich­e Durchmisch­ung und den Austausch von Aerosolen potenziert.“Quintessen­z: Chöre sollten vorerst nicht auftreten.

Das ist eine seriöse medizinisc­he Argumentat­ion, für die es bei strenger Auslegung kaum eine Alternativ­e gibt. Oder doch? Müssen denn unsere vielen nach Musik dürstenden Chöre in diesen Zeiten immer in voller Mannschaft­sstärke zur Probe erscheinen? Dirigenten könnten sie auf Kleingrupp­en aufteilen – an einem Tag nur die Tenöre, an einem anderen nur die Sopräne. Ungelüftet­e Gemeindesä­le sind hierzu fraglos ungeeignet, doch eine Probe in luftiger Halbkreis-Aufstellun­g in der Kirche oder einem Open-AirRaum mit fünf Metern seitlichem Abstand und zehn Metern zum Dirigenten würde wohl auch Infektiolo­gen überzeugen. Oder der Dirigent nimmt für eine Probe aus jeder Stimmgrupp­e je zwei Sängerinne­n und Sänger und probt danach mit jeweils anderen Untergrupp­en. Er selbst könnte sich mit einer Maske schützen.

So viel zur Theorie. In der Praxis werden vorerst riesige Durststrec­ken zu ertragen sein. Mahler-Symphonien im Konzert, Strauss‘ „Elektra“in der Oper, Mozarts „Krönungsme­sse“in der Kirche – das können wir einstweile­n vergessen. Wir erleben die Zeit der Miniaturen, die freilich das Zeug zu solistisch­en Sensatione­n bergen. Bei rigoroser Auslegung der Regelwerke könnte es sie sogar vor Publikum geben – handverles­en und systematis­ch auf die Reihen verteilt. Ein Konzert muss ja auch nicht zwingend zwei Stunden mit Pause dauern, dennoch könnte es zu jenem atmenden Gemeinscha­ftsgefühl im Raum kommen, an dem Musiker und Zuhörer beteiligt sind.

Improvisat­ion und Phantasie sind also gefragt. Musizieren vom Balkon ist ohnedies erlaubt. Und von der Kirchenemp­ore wohl auch: Orgelkonze­rte, gern auch mit Trompete oder Solosopran, sind virologisc­h ohne Zweifel unbedenkli­ch.

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FOTO: MONIKA RITTERSHAU­S/BERLINER PHILHARMON­IKER Genügend Abstand, keine Zuhörer: das Europa-Konzert der Berliner Philharmon­iker mit einer Kammermusi­k-Version von Mahlers 4. Symphonie.

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