Im Kampf gegen die Pandemie wehrt sich der Landkreistag gegen strenge Vorgaben für ganze Regionen, auch wenn nur ein Altenheim betroffen ist. Der Ministerpräsident sagt Unterstützung zu. Aus Heinsberg kommt Kritik an den Lockerungen.
DÜSSELDORF/BERLIN Die mit der Bekämpfung des Coronavirus vor Ort betrauten Landkreise wehren sich gegen zu starre Vorgaben. Vor allem protestieren sie gegen die Auflage, die Lockerungen in ihrem gesamten Gebiet zurückfahren zu müssen, wenn je 100.000 Einwohner die Schwelle von 50 Neuinfektionen binnen sieben Tagen überschritten ist. „Schematisches Handeln wäre falsch“, sagte der Präsident des Deutschen Landkreistages, Reinhard Sager, unserer Redaktion. Er verwies auf das Beispiel einer hohen Zahl an Neuinfizierten nur in einem Altenheim, einem Schlachtof oder einer einzelnen Gemeinde. Darauf solle man nicht mit Maßnahmen für die Allgemeinheit im gesamten Landkreis reagieren. „Das wäre überzogen“, unterstrich Sager.
Bund und Länder hatten sich jüngst darauf geeinigt, dass beim Überschreiten des Grenzwerts von 50 Infizierten umgehend ein Beschränkungskonzept
mit restriktiven Maßnahmen umgesetzt werden muss. „Es geht um flexible, zielgerichtete und wirksame Lösungen – vor allem örtlich begrenzt“, sagte Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) unserer Redaktion. Dieser vereinbarte Notfall-Mechanismus sei ein zentraler Baustein für den Weg in die verantwortungsvolle Normalität.
Stephan Pusch aus Heinsberg, der als einer der ersten Landräte Deutschlands von der Corona-Krise betroffen war, unterstützt aus eigener Erfahrung den Kurs, die Entscheidungen nun dezentral zu treffen. So könnten gezielt die jeweiligen Ereignisse vor Ort berücksichtigt werden. Pusch rief in Erinnerung: „Im Kreis Heinsberg haben wir beispielsweise die Schulen und Kitas schon am Aschermittwoch geschlossen, so früh wie nirgendwo anders in Deutschland.“Er hätte sich allerdings für die nun erfolgte Öffnung der Schulen ein klareres Konzept gewünscht, sagte Pusch. Grundsätzlich begrüße er die Lockerungen.
„Allerdings geht mir das alles zu schnell“, schränkte er ein. „Die Vielzahl der Lockerungen suggeriert den Bürgern, wir hätten es geschafft. Das ist aber noch nicht der Fall“, betonte der Landrat.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) stellte zusätzliche personelle Unterstützung für die lokalen Gesundheitsämter in Aussicht. „Wo Verstärkung notwendig ist, da werden wir sie geben, zusammen mit den Ländern“, sagte sie bei einem Telefonat mit den Behörden im Harz. Das Angebot des Bundes, mobile Einsatzteams zur örtlichen Unterstützung bereitzuhalten, stößt bei den Kommunen allerdings auf verfassungsrechtliche Bedenken. NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) hält angesichts der Hygieneverstöße auf einem Schlachthof in Coesfeld auch einen Bundeswehr-Einsatz für möglich.
Die geplanten 20.000 Tests an Standorten mit Schlachthöfen in NRW könnten hingegen noch mit dem jetzigen Personal in den Gesundheitsämtern bewältigt werden. Für den Fall, dass sich die Infektionen in Coesfeld auf den Betrieb konzentrieren, stellte der Minister zum Wochenende Lockerungen der Corona-Auflagen dort in Aussicht. Bisher seien in Coesfeld von 1000 Tests 249 positiv ausgefallen. 476 Getestete hätten sich nicht infiziert, die übrigen Ergebnisse lägen noch nicht vor, sagte Laumann. Nach den Schlachthöfen will er auch landwirtschaftliche Betriebe mit Saisonkräften genauer überprüfen.
Ministerpräsident Laschet erklärte, dass es ausreichend Testkapazitäten und Schutzkleidungen gebe, um die Öffnungen jetzt durchzuführen: „Sonst hätten wir sie nicht beschlossen.“Die Kommunen hätten die Gesundheitsämter personell aufgestockt und könnten Kontakte von Infizierten schon besser nachvollziehen. „Wo das Personal vor Ort nicht reicht, bringen wir Mitarbeiter der Landesverwaltung als Verstärkung hin.“Laschet versprach zudem, die Testkapazitäten auszubauen. Auf die Frage, ob man mit den Öffnungen bis zur Einführung einer Tracing-App hätte warten sollen, die Infektionsketten nachvollziehbar macht, sagte er: „Ich kenne niemanden, der jetzt noch einmal fünf Wochen Lockdown verantworten kann – mit massiven Schäden für Menschen, Gesundheit und Wirtschaft.“