Schatz der Medizingeschichte entdeckt
In einem Schrank tauchen mehr als 100 Jahre alte Röntgenplatten auf. Studenten entschlüsseln ihre Geheimnisse.
DÜSSELDORF Die alten Kartons in irgendeinem Schrank hätten sie leicht übersehen können. Aber glücklicherweise haben sie doch genauer hingeschaut. Und einen medizinischen Schatz gehoben: Glasplatten in der Größe eines DIN-A4-Papierblatts, mit Gelatine-Bromsilber-Lösung beschichtet, alle beschriftet und datiert – 50 frühe Röntgenaufnahmen der Medizinischen Krankenanstalten, Vorgängerin des heutigen Uniklinikums, alle hundert Jahre und älter. Das war der Moment, als Efim Flom, Lehrer für Strahlentherapie an der hauseigenen Schule für Medizinisch-Technische Assistenten und seine Schüler ein Forschungsprojekt begannen: eine Spurensuche in der medizinischen Vergangenheit.
Sie haben die alten Gelatine-Trockenplatten untersucht und gemeinsam mit Professor Gerald Antoch, Chefarzt der Radiologie, für jedes Stück eine Diagnose erstellt. Sie waren monatelang in Archiven unterwegs und haben hunderte alte Firmenbriefe, Kostenvoranschläge, Reklamationen, interne Schreiben, Kaufgenehmigungen, Verwaltungskorrespondenz und Personalakten gefunden. Und jedes Stück sorgfältig fotografiert, dokumentiert und analysiert. Darunter auch das „Spezialangebot“der Elektronischen Werkstatt Richard Seifert & Co vom 25. August 1908, die „seit längerer Zeit Ihre geschätzten Aufträge in photographischen Röntgenplatten vermisst“hat und nun „Original Schleussner Trockenplatten“ab 2,15 Mark das Dutzend anbietet.
Aber vor allem fand das Team die gut erhaltenen und noch perfekt lesbaren Röntgenplatten von einst – „in einer faszinierenden Qualität“, so Efim Flom. Auf denen sind vor allem Aufnahmen des Brustkorbs zu sehen, konnte man doch mit dieser jungen Technik – die Strahlen waren 1895 von dem Physiker Wilhelm Conrad Röntgen entdeckt worden – unter anderem die Lungenkrankheit Tuberkulose diagnostizieren. Auf einigen Fotos kamen die Medizin-Detektive auch den Patienten von einst näher: Ausgemergelte Gestalten, die mit ernstem Blick in die Kamera schauen. Vor ihnen hocken Ärzte und Röntgenschwestern, damals auch Spezialschwestern genannt – ohne jeden Schutz vor den gefährlichen Strahlen, allenfalls mit Gummihandschuhen ausgestattet.
Viele von ihnen wurden durch diese tägliche Arbeit selbst schwer krank. Auch davon berichten die alten Personalakten. „Unter welchen Bedingungen unsere Vorgängerinnen arbeiten mussten, hat uns sehr berührt“, berichtet Jessica Kaiser, die heute zur medizinisch-technischen Radiologie-Assistentin ausgebildet wird und an der Spurensuche beteiligt war. Denn die Personalakten geben nicht nur Auskunft über Lebensläufe, Urlaubsanträge, Krankenscheine – wie von Rotkreuzschwester Else Allin, die 1907 als Röntgenschwester in Düsseldorf angefangen hatte, über eine exzellente Ausbildung verfügte und bis zu ihrer Pensionierung 1926 als „hochgeschätzte Persönlichkeit“galt. „Es fällt auf“, so Efim Flom, „dass viele Mitarbeiterinnen schwere Lungen-, Bindegewebs- und Augenerkrankungen hatten“, die häufig durch ärztliche Gutachten offiziell als Begleiterkrankungen ihres Berufes anerkannt wurden.
Keine Frage: die radiologische Diagnostik begann mit technisch primitiven Röntgenröhren, die aber bereits eine Bilddarstellung ermöglichten, um zwischen gesundem und pathologischem Gewebe zu unterscheiden. Auch wenn noch ohne wissenschaftliche Basis. „Die Abläufe vor über 100 Jahren haben uns schon an unsere tägliche Arbeit erinnert. Aber uns wurde auch bewusst, welche revolutionären technischen Fortschritte danach erzielt wurden“, so Jessica Kaiser. In der Diagnostik, aber auch in der Therapie zur Behandlung von Krebserkrankungen. So setzt die heutige Strahlentherapie des Klinikums vier modernste Linearbeschleuniger an, die mit Röntgenstrahlen Tumorzellen präzise bekämpfen, ohne die umliegenden Organe zu schädigen. Und ohne die Mitarbeiter gefährlichen Strahlen auszusetzen.
Aber die Recherche war noch von einer weiteren Erkenntnis geprägt: Auch 110 Jahre nachdem die alten „Röntgenphotographien“aufgenommen wurden, werden bis heute moderne Röntgenbilder eingesetzt, um Lungenerkrankungen zu diagnostizieren – auch die Folgen des Corona-Virus. Aber was wird nun aus ihrer Schatzsuche? Eigentlich sollten ihre Ergebnisse im Unterricht präsentiert werden, der nun im Wesentlichen auf die digitalen
Möglichkeiten beschränkt ist. Und die alten Röntgenplatten? Die bleiben erst mal in der Schule, aber in alten Kartons werden sie gewiss nicht wieder landen. Und die Medizin-Detektive sind auf den Geschmack gekommen, sie wollen nun weitere Recherchen beginnen zur Geschichte der Strahlentherapie.