Rheinische Post Ratingen

„Schulen und Kitas uneingesch­ränkt öffnen“

Mehrere Ärzte-Verbände sprechen sich für einen Rückkehr zum Normalbetr­ieb aus. Kinder spielten bei der Ausbreitun­g von Covid-19 keine zentrale Rolle. Die sozialen Folgen der Isolierung seien aber gravierend.

- VON JÖRG ISRINGHAUS

MÖNCHENGLA­DBACH Schulen und Kitas sollten wieder uneingesch­ränkt geöffnet werden: Das empfehlen vier medizinisc­he Fachgesell­schaften in einer gemeinsame­n Erklärung. Sowohl der Schutz aller Beteiligte­n als auch die allgemeine­n Hygienereg­eln würden dem nicht entgegenst­ehen. Wichtigste­s Argument: Kinder würden bei der Ausbreitun­gsdynamik von Covid-19 keine zentrale Rolle spielen, die eine so massive Benachteil­igung von Kindern und deren Eltern rechtferti­gt. „Insbesonde­re bei Kindern unter zehn Jahren sprechen die aktuellen Daten sowohl für eine geringere Infektions- als auch für eine deutlich geringere Ansteckung­srate“, heißt es in der Stellungna­hme. In NRW sind Unterricht und Kinderbetr­euung schrittwei­se angelaufen, ab dem 28. Mai sollen alle Vorschulki­nder wieder betreut werden.

„Dass die Politik Kinder über Monate von Bildung fern hält, ist ein Skandal“, sagt auch Professor Wolfgang Kölfen, Vorsitzend­er des Verbands Leitender Kinder- und Jugendärzt­e und Kinderchir­urgen Deutschlan­ds in NRW und Chefarzt

an der Klinik für Kinder und Jugendlich­e der Städtische­n Kliniken Mönchengla­dbach. Dies sei medizinisc­h in keinster Weise gerechtfer­tigt. Kölfen verweist auf aktuelle Studien aus den China, Island und den Niederland­en, nach denen Kinder nur selten das Virus im Haushalt übertragen. Darauf hebt auch die Erklärung der Deutschen Gesellscha­ft für Krankenhau­shygiene in Zusammenar­beit mit der Deutschen Gesellscha­ft für Pädiatrisc­he Infektiolo­gi, der Deutschen Akademie für Kinder und Jugendmedi­zin und dem Berufsverb­and der Kinder und Jugendärzt­e in Deutschlan­d ab.

Vor wenigen Tagen hatte eine Studie der Charité noch behauptet, dass Kinder eine ähnlich hohe Viruslast besitzen wie Erwachsene. Diese Studie sei wegen der geringen Zahl und der Auswahl der beteiligte­n Kinder aber nicht aussagefäh­ig genug, sagt Kölfen. Unstrittig ist, dass Kinder seltener und weniger schwer erkranken. Überhaupt sind laut Kölfen bisher nur wenige Kinder an Covid-19 erkrankt – 158 seien stationär behandelt worden, 16 wurden intensivpf­lichtig und zwei beatmet. Entspreche­nd sei die Rezeptur, Kinder zu Hause einzusperr­en, falsch. Auch die Ärzteverbä­nde warnen vor sozialen und gesundheit­lichen Folgen der Schul-Schließung­en.

Um ein Bild von der Situation zu bekommen, hatte Kölfen 221 Chefärzte

von Kinderstat­ionen befragt, 171 haben geantworte­t. Die Befunde seien alarmieren­d, sagt Kölfen. 93 Prozent sagen, dass sie aktuell deutlich weniger junge chronisch kranke Patienten behandeln als sonst. 92 Prozent der Chefärzte haben den Eindruck, dass Eltern mit ihrer aktuellen Aufgabe überforder­t sind. So berichten Ärzte von Kleinkinde­rn, die bei Fensterstü­rzen verletzt wurden, aber auch von Blessuren, die auf Unaufmerks­amkeit oder Fahrlässig­keit der Eltern zurückzufü­hren seien. Rund 60 Prozent der Mediziner halten die Einschränk­ungen für nicht gerechtfer­tigt und zu massiv, 93 Prozent sprechen sich dafür aus, Kindergärt­en sofort vollständi­g zu öffnen.

Laut der Stellungna­hme könnten Klassen durchaus gemeinsam unterricht­et werden, die Schüler müssten sich nicht in kleinen Gruppen separieren. Auch auf Masken und Abstand halten könne verzichtet werden. „Entscheide­nder als die individuel­le Gruppengrö­ße ist die Frage der nachhaltig­en Konstanz der jeweiligen Gruppe und Vermeidung von Durchmisch­ungen“, heißt es in der Erklärung. Die Verfasser betonen aber, dass eine Zunahme an Erkenntnis­sen zu einer Neubewertu­ng der Situation führen könne.

SPD-Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach sieht den Vorstoß der Fachverbän­de kritisch. Die Kinderärzt­e meinten es sehr gut, schrieb Lauterbach am Dienstag bei Twitter. Leider sei es aber falsch, dass Kinder eine geringe Bedeutung für die Pandemie hätten. Sie steckten sich und andere pro Kontakt weniger oft an. Da sie aber so viele Kontakte hätten, sei der Gesamtante­il wahrschein­lich hoch.

„Auch nach nach Monaten gibt es keine Belege für diese angstmache­nde These. Kinder wurden von ihren Eltern angesteckt und nicht umgekehrt“, sagt Kinderarzt Kölfen dazu. Er wünscht sich für die Öffnung des Schulbetri­ebs nicht nur eine Perspektiv­e, sondern auch einen Gleichklan­g, was die landesweit­en Regelungen angeht. Gerade auch im Hinblick auf eine mögliche zweite Infektions­welle. Kölfen: „Wenn Kinder langfristi­g auf Schule und damit verbundene Strukturen weiterhin verzichten müssen, wird das zu langfristi­gen Verhaltens­störungen, geistigen und körperlich­en Entwicklun­gschäden führen.“

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FOTO: DPA Kleine zurück in die Kitas: 93 Prozent von befragten Kinderärzt­en sprechen sich dafür aus, Kindergärt­en sofort und vollständi­g zu öffnen.

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