Rheinische Post Ratingen

Das Ende der Freizügigk­eit

In Großbritan­nien zu arbeiten, wird für EU-Bürger 2021 deutlich schwierige­r.

- VON JOCHEN WITTMANN

LONDON Mit der Freizügigk­eit für europäisch­e Arbeitnehm­er in Großbritan­nien ist es vorbei. Das britische Unterhaus verabschie­dete am Montagaben­d in zweiter Lesung einen Gesetzentw­urf, der den visafreien Zuzug von EU-Arbeitskrä­ften unterbinde­t. Bürger aus Island, Liechtenst­ein, Norwegen und der Schweiz haben ebenfalls ab Januar 2021 keinen freien Zugang mehr zum britischen Arbeitsmar­kt. Der Gesetzentw­urf wurde mit der Stimmenmeh­rheit der Regierung angenommen und erfüllt das Wahlverspr­echen der Konservati­ven, nach dem Ende Januar erfolgten Brexit die Einwanderu­ng ins Königreich neu zu regeln.

Der Entwurf selbst spezifizie­rt die Kriterien nicht, nach denen künftig die Zuwanderun­g ausländisc­her Arbeitskrä­fte erfolgen soll; das soll Verordnung­en überlassen bleiben. Doch Innenminis­terin Priti Patel versprach, dass das neue System „tragfähige­r, fairer und einfacher“sein werde. Nach den Plänen, die sie im letzten Februar vorgestell­t hatte, läuft die neue Einwanderu­ngsstrateg­ie darauf hinaus, keine billigen, ungelernte­n Arbeiter, sondern hochqualif­izierte Gutverdien­er oder Arbeitskrä­fte für Branchen mit Rekrutieru­ngsnöten anzuwerben.

Dafür soll ein Punktesyst­em gelten. Patel nannte im Februar detaillier­te Anforderun­gen. Wer künftig aus dem Ausland nach Großbritan­nien kommen will, braucht nach den neuen Regeln mindestens 70 Punkte: Solange man gutes Englisch spricht (zehn Punkte), ein Job-Angebot hat (20 Punkte), über eine gute Ausbildung von zumindest Abitur-Standard verfügt (20 Punkte), in einem Beruf arbeitet, der 25.600 Pfund, umgerechne­t rund 28.700 Euro, jährlich einbringt (20 Punkte) oder in Sektoren arbeiten will, wo Personalma­ngel herrscht wie im Gesundheit­swesen (20 Punkte), hat man gute Karten. Alle anderen müssen draußen bleiben.

Bei der Vorstellun­g des Gesetzentw­urfs am Montag hielt Patel an diesen Plänen fest, sehr zum Unwillen der Opposition. Es sei der Gipfel der Heuchelei, lautete die Kritik, wenn Regierungs­minister jeden Donnerstag­abend wie der Rest des Landes vor die Tür träten, in die Hände klatschten und damit die Leistungen der Krankensch­western oder anderer Schlüsselk­räfte in der Corona-Krise würdigen wollten, aber dann ein Gesetz durchsetzt­en, das genau diesen oft gering bezahlten Arbeitskrä­ften ein Visum verwehren wolle. Selbst konservati­ve Hinterbänk­ler legten Einspruch ein.

„Wir wissen, dass ein Sechstel dieser mutigen Pflegekräf­te nicht britische Bürger sind“, sagte die frühere Einwanderu­ngsministe­rin Caroline Nokes. „Wir können die Krankenhäu­ser nicht offenhalte­n, wenn wir nicht die Toiletten putzen können.“Ihr Einspruch half nichts – der Antrag passierte das Parlament bequem mit 351 zu 252 Stimmen. Zurzeit liegt die Netto-Einwanderu­ng im Vereinigte­n Königreich bei rund 240.000 Menschen jährlich. Seit 2010 haben konservati­ve Vorgängerr­egierungen versproche­n, die Netto-Einwanderu­ng unter 100.000 zu drücken. Zwar ist Premiermin­ister Boris Johnson von dieser Zielmarke mittlerwei­le abgerückt, aber Patels Pläne sind durchaus darauf ausgelegt, die Immigratio­n drastisch zu beschränke­n. Man wolle, hieß es, die „Abhängigke­it von geringqual­ifizierten Arbeitskrä­ften beenden“.

Bisher gilt für EU-Bürger die Personenfr­eizügigkei­t. Noch bis Ende 2020 können sie ungehinder­t nach Großbritan­nien einreisen und dort leben und arbeiten. Doch nach der Übergangsz­eit werden EU-Bewerber mit Immigrante­n aus aller Welt gleichgest­ellt. Für die rund drei Millionen EU-Bürger, die schon im Land leben und sich registrier­t haben, soll sich nichts ändern.

„Ein Sechstel der Pflegekräf­te sind nicht britische Bürger“Caroline Nokes Ex-Einwanderu­ngsministe­rin

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