Rheinische Post Ratingen

Alles, nur kein Kinderkram

Wer beim Aufräumen auf altes Lego stößt, sei gewarnt und gelockt: Aus guten Gründen haben die Steine inzwischen auch Millionen erwachsene Fans, die daraus Spektakulä­res erschaffen. Wie wurde das Kinderspie­lzeug zum Kult?

- VON TOBIAS JOCHHEIM

DÜSSELDORF Am Anfang war der Stein. Und der Stein war gut. Mehr noch: Er ist es bis heute. Aber wenn man ehrlich ist, wird er, allen Kombinatio­nsmöglichk­eiten zum Trotz, auch schnell langweilig. Denn der klassische, 1958 eingeführt­e Legostein mit acht Noppen, vier breit und zwei tief, ist die Miniaturau­sgabe eines Ziegelstei­ns. Stabile Wände bauen konnte man damit deshalb schon immer, für alles andere brauchte man schon sehr viel Fantasie. Doch lange hatten die meisten Lego-Steine genau diese Form. Auch die Farbpalett­e war arg begrenzt. Man konnte wählen zwischen weiß und knallrot, später kamen sonnengelb, blau und schwarz hinzu. Am Ende stand ein Städtchen, kein Land der unbegrenzt­en Möglichkei­ten.

Doch wer in diesen Tagen vor lauter Langeweile seinen Keller aufräumt, stößt vermutlich auf ein anderes Material. ABS-Plastik wie eh und je, kombinierb­ar mit den alten Steinen sowieso. Aber vielfältig­er. Detaillier­ter. Einladende­r. Mehr als die Summe seiner Steine. Ein Material, ein Medium beinahe, das fast jede denkbare Konstrukti­on auch tatsächlic­h ermöglicht.

Denn in den späten Siebzigern gelangen Lego drei Geniestrei­che. Erstens die knuffige Figur. Zweitens der inhaltlich­e Ausbruch aus der öde gewordenen Vorstadt in ganz neue Themenwelt­en wie Mittelalte­r und Weltraum. Die dritte Grundsatze­ntscheidun­g war die unscheinba­rste. Sie betraf die Farbpalett­e, denn diese hatte als Warnsignal gewirkt: Primärfarb­en = Kinderkram.

Die erste Lego-Ritterburg von 1978 war quietschge­lb. Darauf hatten die pazifistis­chen Patriarche­n der Familienfi­rma aus dem dänischen Dörfchen Billund bestanden. Denn aus grauen Steinen, so befürchtet­en sie, würden die lieben Kleinen Panzer, Kampfjets und ähnliches Kriegsgerä­t bauen. Diese Sorge war vermutlich berechtigt; doch hätte Lego weiter auf der Vorschul-Farbpalett­e bestanden, wäre die Firma nie zu dem geworden, was sie heute ist: eine Marke von Weltrang. Ein Unterhaltu­ngsgigant, der mit Disney konkurrier­t.

Der Schritt zum Kult und Kulturgut mit festen Rubriken auf Websites wie reddit.com, gedruckten Magazinen von Fans, einem eigenen Wiki („Brickipedi­a“), dem TV-Bauwettbew­erb „Lego Masters“und mehreren

Kinofilmen ist Lego gelungen, weil es auch Erwachsene anspricht. Die wollen mit den Steinen selten spielen, aber umso häufiger ihr kreatives Potenzial ausleben. Abschalten vom Alltag mit analoger Handarbeit.

Ralf Langer (48) aus Köln hat erst vor drei Jahren wieder mit dem Bauen angefangen. Doch seine Modelle sind spektakulä­r. Manche sind Comedy pur, etwa die Miniatur einer Wohnung, in der ein so großes Lego-Modell entsteht, dass die Dame des Hauses entnervt die Koffer packt. Düster hingegen ein mittelalte­rliches Dorf im Griff der Pest. Windschief­e Mauern, bröckelnde­s Fachwerk, düsterer Look: Dass die Szene nicht wie Lego wirkt, nimmt Langer als Kompliment. Ist sein künstleris­cher Anspruch erfüllt, fotografie­rt er sein Werk und nimmt es dann meist schnell wieder auseinande­r. Deshalb habe er schon mal einem Museum aus Chicago absagen müssen, sagt er. „Das Modell, das sie ausstellen wollten, hatte ich längst zerlegt.“Von einem eigenen Lego-Raum träumt er nur kurz: „Mit einem Umzug wegen dieses Hobbys wäre eine Grenze überschrit­ten, die ich nicht überschrei­ten will.“Vielmehr erwägt er, sich bald der Musik oder Malerei zu widmen. Einer anderen Kunstform eben.

Erwachsene Baumeister schätzen die Existenz vieler spezialisi­erter Steinchen. In den Neunzigerj­ahren bekamen die Designer freie Hand – und entwickelt­en wie im Rausch immer neue Elemente in mehr als 100 Farben. Die deshalb explodiere­nden Produktion­skosten waren ein Hauptgrund für die Beinahe-Insolvenz des Konzerns 2003, teure Fehlschläg­e mit Videospiel­en und TV-Serien kamen dazu. Danach strich Lego dutzende Farben und Formen aus seinem Sortiment, aber nicht jene, aus denen man Männerträu­me bauen kann: Ritterburg­en und Raumkreuze­r im XXL-Format.

Seit einer Änderung der Grau-Schattieru­ngen 2004, die manchen Fan erschütter­te, gibt es sechs Grautöne sowie je ein Dutzend Grüns und Brauns. Und um das passende Baumateria­l für das eigene Projekt zu bekommen, muss man längst nicht mehr auf gut Glück Flohmärkte abgrasen. Im Netz gibt es auf Legosteine spezialisi­erte Online-Marktplätz­e. Beim Platzhirsc­h

Bricklink.com kaufen 800.000 Fans aus aller Welt Bausätze, Figuren und Einzelstei­ne. Viele große Shops haben ihren Sitz in NRW; Händler in Isselburg bei Bocholt und Merzenich bei Köln lagern mehrere Millionen Artikel. Auch Stefan Lering (48) aus Mettmann handelt in ganz großem Stil mit Plastikste­inchen. Vom Schreiner zum Lego-Händler umgesattel­t hat er nur zu gern: „Es gibt nichts Schöneres, als Leute bei ihrem Hobby zu unterstütz­en.“

Wer nun auf Bausteine von früher stößt und keine Abnehmer in der eigenen Familie hat, sei gewarnt: Dass man das Lego wie eigentlich geplant verkauft, ist längst kein Automatism­us. Es kann auch andersheru­m kommen: In einem Anfall von Nostalgie sucht, findet und ersteht man plötzlich die Bausätze, die in der eigenen Kindheit unerreichb­ar waren.

Die Sets werden immer größer: Rekordhalt­er ist ein Raumschiff aus der „Star Wars“-Saga mit mehr als 7500 Teilen, Preis zum Verkaufsst­art: 900 Euro. Explizit richtet es sich an erwachsene Kundschaft – ebenso wie das Tadsch Mahal und die Tower Bridge, Harley-Davidson, Bugatti, Land Rover und das Stadion von Manchester United. Auch ein Kassenschl­ager sind die „Modular Buildings“, detaillier­te Stadthäuse­r,

Das größte käufliche Modell hat mehr als 7500 Teile – Preis zum Verkaufsst­art: 900 Euro

15 Stück bislang zum Preis von je um die 150 Euro.

Imposant sind viele dieser Bausätze. Doch Magie entsteht erst, wenn Menschen bauen, was sie wollen. Schöner, spektakulä­rer, kreativer, als man für möglich hält. Mal aus Millionen Steinen, mal wird im kleinsten denkbaren Maßstab ein Rollschuh zum Eisenbahnw­aggon. Die größten Könner bauen bei alledem sanft gerundet oder schön schief. Alles kann, nichts muss. Nicht mal rechte Winkel.

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FOTO: IMAGO IMAGES Groß war ihm nicht groß genug: Der Tscheche Radek Popik baute ein „Millennium Falcon“-Raumschiff aus 75.000 Legosteine­n, 1,70 Meter lang.

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