Land der vielen Sprachen
Pfingsten ist das Wunder des Grenzen überschreitenden Verstehens. In NRW, wo die Sprachvielfalt besonders groß ist, dauern Wunder etwas länger. Am Ende versteht man sich trotzdem.
Vor rund 2000 Jahren hörten Ägypter, Römer, Kreter und Araber die Jünger in Jerusalem plötzlich in ihrer jeweiligen Muttersprache reden, als über alle der Heilige Geist kam. Das ist nicht nur quasi die Anti-Geschichte zum Turmbau zu Babel, da der Herr die Menschen wegen ihres Hochmuts sprachlich verwirrte, sondern es ist bis heute der Traum aller, die ihren Geist mit dem Büffeln von Vokabeln und Grammatik malträtieren. Beide biblischen Begebenheiten lehren eines: Sprache schafft Gemeinschaft, ohne Verständigung fehlt dafür die wichtigste Grundlage.
Gemeinschaft schafft aber auch Sprache, und weil sich Gesellschaften stetig verändern, wandeln sich auch Wörter, Redewendungen, Dialekte. Altes stirbt, Neues kommt hinzu. Besonders dynamisch geht es dabei in Nordrhein-Westfalen zu, und zwar schon lange, bevor die Briten das Bindestrich-Bundeslandes gründeten.
Benrath etwa markiert für Germanisten eine Linie, entlang der sich eine sprachliche Revolution ereignete. Im vierten Jahrhundert wohnte dort noch kein Mensch, aber die Leute weit im Süden davon begannen zu jener Zeit mehr und mehr hochdeutsch zu sprechen. Aus maken wurde machen, aus Peper Pfeffer, aus Tied Zeit, aus Dag Tag. An der Benrather Linie stoppte dieser Prozess, den man die Zweite Lautverschiebung nennt. Dahinter wurden weiter niederdeutsche und niederfränkische Dialekte gesprochen. Deshalb ist es bis heute für einen Rheinländer aus Köln oder Bonn schwieriger, einen niederdeutsch sprechenden Westfalen zu verstehen als umgekehrt.
1815 ist es Preußen, das sich die Rheinprovinz und die Provinz Westfalen einverleibt. In deren westlichen Regionen wird damals in der Schule noch niederländisch gelernt, in der Kirche so gepredigt. Binnen weniger Jahrzehnte sind beide Provinzen durch Amtssprache und Schulpflicht rein deutschsprachig. Freilich sprechen in der Grenzregion bis heute viele Deutsche Niederländisch, viele Niederländer deutsch.
Während der Industriellen Revolution entstehen im Ruhrgebiet nicht zur Bergwerke und Hochöfen. Das Revier wird zu einem Schmelztiegel von Sprachen, welche die Arbeitsmigranten, vor allem aus Polen, mitbringen. Das Ergebnis ist, wie es der Kabarettist Fritz Ekenga formuliert, „Hochdeutsch, nur nicht so kompliziert“. Kostprobe: „Wen hört das Fahrrad vor die Tür?“Antwort: Ich!“Sich in einem sogenannten Regiolekt zu unterhalten, stiftet Identität, wie auch die Bewohner der Domstadt stolz auf ihr „Kölsch“sind – gesprochen wie getrunken.
Im Düsseldorfer Stadtteil Gerresheim kennt der ein oder andere noch das Hötter Platt, das von ostelbischen Arbeitern der 1864 gegründeten Glashütte gesprochen wurde und aus mecklenburgischen und pommerschen Dialekten besteht.
Nach dem Zweiten Weltkrieg bringen Vertriebene und Spätaussiedler fremde deutsche Dialekte nach NRW. „Die deutsche Sprache sollte sanft und ehrfurchtsvoll zu den toten Sprachen abgelegt werden, denn nur die Toten haben genügend Zeit, um sie zu lernen“, spottete einst Mark Twain. Doch auch wenn Deutsch nichts für schwache Zungen ist, bleibt seine Beherrschung für Integration essentiell. Immerhin: Die Mehrheit der Menschen mit Migrationshintergrund in NRW (und das ist jeder Vierte) spricht auch zu Hause deutsch: 56,9 Prozent, wie die aktuelle Zuwanderungsund Integrationsstatistik belegt. Dabei werden, so der Dialektforscher Georg Cornelissen, auch die regionalen Ausprägungen des Deutschen an Rhein und Ruhr rasch angenommen.
Andererseits beeinflusst die Migration das Deutsche – besonders in der Umgangssprache. Vor allem Jüngere grenzen sich häufig durch wenig grammatiktreue Jugendoder Kiezsprachen ab – und NRW hat unter allen Bundesländern den höchsten Ausländeranteil. Die größte Gruppe bildeten Ende 2018 mit rund einer halben Million weiterhin Menschen mit türkischer Staatsangehörigkeit, gefolgt von Polen (220.900); Syrern (206.000) und Italienern (143.100).
„Wo Mehrsprachigkeit dominiert, wird alles beseitigt, was man für die Verständigung nicht braucht. Komplizierte Grammatik wird abgebaut – übrigens auch in der Muttersprache der Migranten“, so der Sprachwissenschaftler Uwe Hinrichs in einem Interview mit dem Goethe-Institut. Viele Fehler könnten schon in naher Zukunft nicht mehr als solche wahrgenommen werden.
Auch die gesprochenen Dialekte in NRW befinden sich auf dem Rückzug – was nicht heißt, dass sie verloren wären. Durch den Rundfunk, später durch das Fernsehen aber hat sich das Hochdeutsche weitgehend durchgesetzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg empfanden es viele als Makel, Mundart zu sprechen.
Da ändert sich gerade etwas. Das Regionale gewinnt an Bedeutung. In einer Zeit, wo viele Bindungen weggebrochen sind, erfährt die Bindungskraft des Dialekts eine neue Wertschätzung – im Moment noch mehr im Bereich Theater und Musik als im Alltag. Wohin die sprachliche Reise führt? „Et kütt, wie et kütt“, weiß der Rheinländer. Ein Wunder, wenn es anders wäre.
Sofie Konnertz, meine Oma, Jahrgang 1900, wusste noch, was Wahrheit und Klarheit in Wort und Rede bedeutet. „Jeseit ess jeseit“, sagte sie, wenn sie auf Verlässlichkeit in Ausdruck und Aussage bestand. Das konnte sich auf das Versprechen des Enkels beziehen, im Garten mit anzupacken, oder auf die Sonntagsrede des Pastors, der Genügsamkeit predigte, aber beim Festbraten zulangte.
Ihre Sprache war das heimische Platt, das – ganz anders, als der Begriff vermuten lässt – keineswegs flach, sondern tiefsinnig daherkommt. Ihre Weisheiten (gesagt ist gesagt) waren geprägt von der Erfahrung aus Kriegs- und Notjahren, aber auch vom Erleben von Freude und Frohsinn bei Feuerwehrball und Schützenfest. Sie sprach gern, redete viel, aber sie schwätzte nie. Jedes Wort war mit Bedacht gewählt. Jede Botschaft – gerade den Enkeln gegenüber – lehrreich.
Während der Opa alles erklären konnte, regelte sie vieles. Er gab von unten lautstark die besten Hinweise, während die Kameraden der Feuerwehr die Leiter erklommen. Sie brannte „stickum“