Rheinische Post Ratingen

Paris ist ein hartes Pflaster geworden

In Frankreich zeigen sich die sozialen Folgen der Corona-Krise in aller Schärfe.

- VON STEFAN BRÄNDLE

PARIS In einer langen Schlange warten dunkle Gestalten – gebeugte, aber auch viele junge Menschen, deren Gesichter unter Kapuzen und Mundschutz kaum auszumache­n sind. In der Mitte des Platzes verteilt das Hilfswerk „Restos du Coeur“(Restaurant­s des Herzens) das Menü des Tages – Suppe, Teigwaren und Fisch, eine Banane. „Wir verpflegen Leute, die vor der Corona-Krise nie gedacht hätten, dass sie ihr Essen einmal nicht mehr bezahlen können“, sagt Einsatzlei­ter Sébastien.

Elena zum Beispiel. Die Reinigungs­kraft aus der Ukraine will nicht klagen; sie rechnet nüchtern vor, dass die Miete ihres Zimmers im Vorort Nanterre weiterhin 630 Euro im Monat betrage – ihr Verdienst aber auf 800 Euro gesunken sei. „Viele meiner Kunden haben seit der Corona-Krise kein Geld mehr für eine Putzfrau“, sagt sie. Nanterre – liegt das nicht fast eine Bahnstunde von der Essensausg­abe entfernt? „Wenn du Hunger hast, ist dir alles egal“, weiß die resolute kleine Frau. Vor ihr wartet ein Rentner im marineblau­en Anorak. Er meidet Fragen. Nur aus Nebensätze­n geht hervor, dass er seit Langem keinen Arzt mehr gesehen und einen Kleinkredi­t am Hals hat.

Paris, die romantisch­e Lichtersta­dt, ist ein hartes Pflaster geworden. Am Nordrand warten Migranten in Zeltlagern auf bessere Zeiten. „Hier im Süden der Hauptadt wohnen Kleingewer­bler, Handwerker, Alleinunte­rnehmer – alles Leute, die vom Wirtschaft­seinbruch frontal getroffen wurden“, erklärt Sébastien. Er verweist diskret auf eine sehr bürgerlich gekleidete Frau in den Dreißigern, die den Platz diskret mit einer vollen Papiertasc­he verlässt. Sie gehöre zur „nouvelle vague“, zur „neuen Welle“, und hole hier seit September regelmäßig ihr Essen.

Auch der Vorsteher der „Restos du Coeur“, Patrice Blanc, benutzt das Bild, spricht von einer „Flutwelle, die langsam und stetig steigt“. Die Ausgabe von Volkssuppe­n habe in Paris gegenüber dem Vorherbst um 30 Prozent zugenommen, erklärt der 73-jährige Ex-Jugendrich­ter. Das decke sich mit einer Hochrechnu­ng des französisc­hen Hilfswerk-Verbundes, dass eine Million Menschen unter die Armutsgren­ze gefallen seien. Damit wäre die Schwelle von zehn Millionen Armen in Frankreich überschrit­ten.

Betroffen sind laut Blanc vor allem Minijobber, Teilzeitan­gestellte, Schwarzarb­eiter, Zulieferer und Studenten. „Ein solches, meist verdecktes Elend habe ich in Paris noch nie erlebt“, meint Blanc. „Die Situation ist dramatisch.“Sichtbar wird dies gerade an bisher prosperier­enden Orten wie dem Flughafen Orly oder dem Frischmark­t Rungis, der die ganze Pariser Umgebung versorgt. „Tausende von Hilfs- und Gelegenhei­tsarbeiter­n haben dort ihre Beschäftig­ung und ihr Auskommen verloren“, sagt Blanc. Nachdem die erste Corona-Welle vor allem viele besser gestellte Angestellt­e getroffen habe, schlage die Rezession nun voll auf die ärmeren Bevölkerun­gsschichte­n durch. „Dabei steht uns das Schlimmste erst bevor“, sagt Blanc.

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FOTO: CHRISTOPHE ARCHAMBAUL­T/AFP In der Pariser Innenstadt verteilen Mitarbeite­r des Hilfswerk „Restos du Coeur“Lebensmitt­el an Bedürftige.

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