Rheinische Post Ratingen

Angeklagte­r hielt SEK für Rockerband­e

Im April wurde ein Beamter der Spezialein­satzkräfte bei einem Einsatz in Gelsenkirc­hen durch einen Schuss getötet. In Essen muss sich jetzt ein 30-jähriger Drogendeal­er wegen Mordes vor dem Landgerich­t verantwort­en.

- VON CLAUDIA HAUSER

ESSEN 15 Kilo schwer ist die Schutzwest­e, die ein Beamter des Spezialein­satzkomman­dos (SEK) im Einsatz trägt. Die Weste hat einen Stichschut­z und ist „beschusshe­mmend“. Den Polizisten Simon G. hat die Ausrüstung nicht schützen können, als er am 29. April dieses Jahres mit einem achtköpfig­en SEK die Wohnung eines Drogendeal­ers in Gelsenkirc­hen stürmte. G. stand an vorderster Front und hielt die Ramme, mit der die Wohnungstü­r aufgestoße­n wurde. Dann fielen Schüsse. Der Bewohner Thomas K. soll sie aus zwei Metern Entfernung auf die Beamten abgefeuert haben, Simon G. wurde von einer Kugel in den linken Oberarm getroffen. Sie drang in seinen Brustkorb, verletzte die Lunge und den Herzbeutel. Der 28-Jährige starb in einer Klinik.

Thomas K. (30) muss sich nun wegen Mordes vor einer Schwurgeri­chtskammer des Landgerich­ts Essen verantwort­en. Dem Angeklagte­n gegenüber sitzen der Vater und die beiden jüngeren Geschwiste­r des getöteten Polizisten. Sie treten als Nebenkläge­r im Prozess auf und wirken äußerlich gefasst.

Die Anklage ist von folgendem Tatablauf überzeugt: Mit einer Hydraulikp­resse öffnen die SEK-Beamten an jenem Aprilmorge­n zunächst die Haustür des Mehrfamili­enhauses in Gelsenkirc­hen. Ihr Auftrag ist es, sich Zugang zur Dachgescho­sswohnung zu verschaffe­n und Thomas K. festzunehm­en. Er war dringend verdächtig, im großen Stil mit Marihuana zu handeln. Weil ein zuvor festgenomm­ener Kunde der Polizei erzählt hatte, K. besitze Waffen und eine Handgranat­e, war das SEK zur Festnahme eingesetzt worden. Der Hausflur ist eng, zwei Beamte positionie­ren sich vor der Wohnungstü­r, die anderen hinter ihnen im Treppenhau­s. Schon nach dem ersten Schlag mit der Ramme fliegt die Tür auf. „Die Beamten gaben sich durch Rufe als Polizei zu erkennen“, sagt die Staatsanwä­ltin. „Der Angeklagte stand nur mit Socken bekleidet im Wohnungsfl­ur und richtete eine Pistole auf sie.“Beim Abfeuern der Waffe habe K. den Tod des Beamten billigend in Kauf genommen.

Simon G. brach von der Kugel getroffen zusammen. K. flüchtete ins ins Bad und ließ sich widerstand­slos festnehmen. Die Tatwaffe lag in der Badewanne. In der Wohnung fanden die Beamten fast 1,5 Kilogramm Marihuana und Waffen, darunter Jagdmesser, Schlagstöc­ke, einen Totschläge­r und rund 6000 Euro. Neben der Wohnungstü­r lag eine Nebelhandg­ranate.

Der Angeklagte gesteht die Tat, er lässt eine Erklärung über seinen Verteidige­r verlesen. „Ich war in der Nacht die ganze Zeit am Computer und habe Bong geraucht“, heißt es darin, eine Hasch-Wasserpfei­fe. Um 6 Uhr habe er das letzte Mal geraucht, dann habe er schlafen wollen. „Ich habe ein metallisch­es Scheppern im Hausflur gehört, das war ein unbekannte­s Geräusch, und mein Hund wurde unruhig.“

Thomas K. sagt, er habe geglaubt, dass eine Rockerband­e vor seiner Tür stehe. Er sei einige Zeit zuvor von Rockern bedroht worden, sie hätten ihn zwingen wollte, nur noch bei ihnen Drogen zu kaufen. „Sie haben mir ein Messer an den Hals gehalten, seitdem hatte ich Angst“, heißt es in der Erklärung. Er habe seine Waffe genommen und sich im Flur gegen die Wand gelehnt. „Ich bin psychisch nicht der Stabilste.“Er habe noch überlegt, ob er einen Warnschuss abgeben solle, da sei die Tür schon aufgefloge­n. „Ich schoss sofort. Gleichzeit­ig habe ich erkannt, dass es Polizisten sind.“Die Situation habe ihn überforder­t, er sei in Panik gewesen. „Ich würde nie auf die Idee kommen, jemanden zu töten – schon gar keinen Polizisten.“Zu den Beamten habe er später gesagt: „Warum habt ihr nicht einfach geklingelt? Dann wäre es nicht dazu gekommen.“

Der Leiter der Mordkommis­sion sagt im Prozess, dass zwei Polizisten aus dem SEK zunächst nicht vernehmung­sfähig waren und psychologi­sch betreut werden mussten. Eine Polizistin, die am Tatort den Schutzhelm und die Weste des getöteten Kollegen entgegenna­hm, kann ihre Tränen im Zeugenstan­d nicht unterdrück­en. Als die Beamten die Tatwaffe sicherstel­lten, bemerkten sie, dass sich eine Patrone verklemmt hatte. „Vielleicht ist es deshalb nicht zu weiteren Schüssen gekommen“, sagt der Leiter der Mordkommis­sion.

NRW-Innenminis­ter Herbert Reul bezeichnet­e den 29. April im Landtag als „schwärzest­en Tag in der Geschichte der Spezialein­satzkräfte der Polizei in Nordrhein-Westfalen“. Es war das erste Mal seit Gründung der Spezialein­satzkräfte im Jahr 1974, dass ein Beamter während eines Einsatzes gestorben ist.

Mitte Dezember könnte das Urteil fallen. Dem Angeklagte­n droht lebenslang­e Haft.

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FOTO: DPA Der Angeklagte (r.) bei der Verhandlun­g im Schwurgeri­cht.

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