Rheinische Post Ratingen

US-Sport ruft zur Wahl auf

Athleten und Vereine zeigen sich in den USA derzeit so politisch und vereint wie nie zuvor. Sie nutzen ihre Popularitä­t, um die Amerikaner zur Stimmabgab­e zu motivieren. Ihre Stadien werden sogar zu Wahllokale­n.

- VON HEIKO OLDÖRP

BOSTON Der Fenway Park in Boston ist in dieser Saison der Major League Baseball wie ein Magnet ohne Anziehungs­kraft gewesen. Aufgrund der Corona-Pandemie waren zu den Heimspiele­n der Boston Red Sox keine Zuschauer erlaubt. In den vergangene­n Tagen aber war Amerikas ältestes Baseball-Stadion trotzdem eine Attraktion. Tausende Bostonians kamen, um die Chance zum “early voting” zu nutzen.

Mirsa und Lizzie sind zwei dieser Früh-Wählerinne­n. Die Studentinn­en lächeln, als sie die Arena verlassen. Sie haben eine neue Erfahrung gemacht, waren erstmals wählen. „Wir haben uns extra für dieses Stadion entschiede­n, ein großer Moment für uns“, sagt Lizzie. Stolz zeigen beide ihre Aufkleber, die jeder nach der Stimmabgab­e bei der Präsidents­chaftswahl bekommt. „I voted at Fenway Park“ist dort zu lesen.

Neben den Red Sox stellen 49 weitere Vereine aus sechs Profiligen ihre Arenen, Trainingsh­allen und Stadionvor­plätze als Wahllokale oder für die Wahl-Registrier­ung zur Verfügung. Noch nie hat sich der USSport im Rahmen der Abstimmung des Staatsober­hauptes so engagiert. In New York City ist der Madison Square Garden gar das größte Wahllokal der Stadt.

Was cool klingt, hat einen ersten Hintergrun­d – Corona. Am Freitag wurden in den USA mehr als 85.000 Neuinfekti­onen gemeldet. Dies war seit Pandemie-Ausbruch der globale Tageshöchs­twert. Die üblichen Wahl-Schauplätz­e wie Schulen oder Rathäuser sind mitunter nicht in der Lage, Menschenma­ssen unter Einhaltung des vorgegeben­en Sicherheit­sabstandes zu bewältigen. Dies könnte, so Befürchtun­gen, eventuell von der Stimmabgab­e abhalten. In den Sport-Arenen hingegen ist social distancing mühelos machbar.

Das wird im Fenway Park deutlich. Wo die Red-Sox-Fans normalerwe­ise auf der Haupttribü­ne zu ihren Plätzen gehen, stehen Wahlkabine­n, Wahlurnen – und sind auf dem Boden alle zwei Meter Abstandsma­rkierungen aufgeklebt. „Es ist ein großes Stadion. Die Leute finden es hier wahrschein­lich angenehmer als in einem Rathaus“, sagt Mirsa. „Es war super effizient, sehr weiträumig. Ich habe mich sicher gefühlt. Und es hat nicht allzu lange gedauert“, ergänzt Lizzie.

Sie ist 2018 nach Boston gekommen, hat zuvor acht Jahre in Berlin

gelebt. Beim Gedanken, dass das dortige Olympiasta­dion als Wahllokal genutzt würde, muss sie schmunzeln. Doch in Deutschlan­d wäre es wohl auch nicht vorstellba­r, dass Bundestrai­ner Joachim Löw während der Übertragun­gen der Fußball-Bundesliga darauf hinweist, wie wichtig es sei, wählen zu gehen. Und dass er dabei ein T-Shirt trägt mit der Aufschrift: „Geht wählen – Euer Leben hängt davon ab.“

In den USA hingegen war Gregg Popovich mit genau dieser Botschaft während der Playoffs der Basketball-Liga NBA im TV zu sehen. Er ist

Trainer der San Antonio Spurs und der US-Nationalma­nnschaft. „Wir haben viele Probleme“, sagt Popovich. Er glaube allerdings nicht, „dass wir nur eines dieser Probleme lösen können, wenn wir nicht wählen. Keine Stimme, kein Land“, so Popovich.

Es gibt noch einen Grund für das Engagement des US-Sport. Amerika hat bewegte Monate hinter sich. Als der Schwarze George Floyd im Mai durch übertriebe­ne Polizeigew­alt qualvoll starb, gingen Millionen Menschen auf die Straßen – darunter auch viele Sportler. In der

US-Geschichte hat es immer mal Athleten gegeben, die laut wurden und Zeichen setzten, um auf soziale Missstände hinzuweise­n. Schwergewi­chts-Weltmeiste­r Muhammad Ali verweigert­e 1967 den Militärdie­nst, entzog sich so dem Vietnamkri­eg. Die 200 Meter-Sprinter Tommie Smith und John Carlos reckten ein Jahr später während der Siegerehru­ng bei den Sommerspie­len ihre Fäuste in den Himmel von Mexiko City. Und Quarterbac­k Colin Kaepernick kniete als Erster 2016 bei der Nationalhy­mne vor NFL-Spielen als Zeichen des Protestes.

Doch dies waren meist Einzelfäll­e. Diesmal hingegen haben sich Sportlerin­nen und Sportler so vereint gezeigt wie noch nie. Sie knieten gemeinsam. Sie nutzten ihre Reichweite in sozialen Medien. Sie sprachen auf Pressekonf­erenzen nicht über ihren Sport, sondern über George Floyd, Breonna Taylor, Ahmaud Arbery und andere Opfer übertriebe­ner Polizeigew­alt.

Und als Ende August mit Jacob Blake ein weiterer Schwarzer von einem weißen Polizisten schwer verletzt wurde, stellten sie sogar ihre Spiele für einige Tage ein. Es war der Zeitpunkt gekommen, noch mehr zu machen. Ein Ergebnis: Arenen werden Wahllokale.

Doch wer in den USA wählen will, muss sich zuvor registrier­en. Auch darauf weisen Ligen und Vereine auf ihren Internetse­iten oder die TV-Sender in ihren Live-Übertragun­gen hin. So sollen vor allem Minderheit­en an die Wahlurnen geholt werden. Schwarze und Latinos, denen es bislang oft egal war, wer im Weißen Haus sitzt.

„In sozialen Brennpunkt­en denken viele, dass ihre Stimme ohnehin nicht zählt. Deshalb gehen sie gar nicht wählen“, hebt Basketball­star LeBron James von den Los Angeles Lakers hervor. Bestätigt wird er vom Spielmache­r der Boston Celtics, Kemba Walker, der aus der New Yorker Bronx stammt. „Wo ich herkomme, spricht keiner über die Wahl. In der Schule sagt dir niemand: ,geh wählen’“, so Walker. Und es passt ins Bild, dass vor kurzem Ex-NBA-Star Shaquille O’Neal erwähnte, erstmals in seinem Leben gewählt zu haben. O’Neal ist 48 Jahre alt.

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FOTO: HEIKO OLDÖRP Die Studentinn­en Mirsa (links) und Lizzie haben zum ersten Mal gewählt. Motiviert hat sie, dass sie ihre Stimme im Stadion der Red Sox in Boston abgeben konnten.

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