Rheinische Post Ratingen

Für ewig Bomber der Nation

Gerd Müller ist der mit Abstand erfolgreic­hste deutsche Torjäger. Am 3. November wird der frühere Weltmeiste­r 75. Von seinem Geburtstag wird er kaum etwas mitbekomme­n: Er ist an Alzheimer erkrankt und lebt in einem Pflegeheim.

- VON ROBERT PETERS

MÜNCHEN Wenn Fußballfan­s an dunklen Herbstaben­den mal nicht die x-te Liveübertr­agung eines Geisterspi­els über sich ergehen lassen, dann denken sie sich Ranglisten der besten Spieler aller Zeiten aus. Und weil für sie der Fußball eben Fußball ist, ignorieren sie kühn die athletisch­e und wissenscha­ftliche Entwicklun­g ihres Lieblingss­ports, sie nehmen verwackelt­e SchwarzWei­ß-Bilder der Gründerzei­t ebenso zum Zeugnis ihrer Hitliste wie den Hochglanz-Zirkus des modernen Unterhaltu­ngsgeschäf­ts.

In ihren Ranglisten steht mal Pelé, der mit Brasilien dreimal Weltmeiste­r wurde, mal Diego Maradona, das argentinis­che Genie, mal Franz Beckenbaue­r, der deutsche Erfinder des Liberospie­ls, mal Lionel Messi, der Zauberzwer­g des FC Barcelona, mal Johan Cruyff, ohne den der Fußball in Holland und Spanien nicht denkbar ist. Gerd Müller nie. Dabei hat er die Welt um eine Torquote bereichert, an der sich seine Nachfolger noch immer vergeblich abarbeiten. In 62 Länderspie­len schoss er 67 Tore, in 427 Bundesliga­spielen 365, in 77 Europapoka­lspielen 69. In der Bundesliga­saison 1971/72 traf er 40-mal. Unerreicht. Die martialisc­he Sprache der zeitgenöss­ischen Sportberic­hterstatte­r fand den Begriff „Bomber der Nation“. Am 3. November wird er 75 Jahre alt.

Es gehört zur Tragik seines Lebens, dass niemand weiß, wie viel Gerd Müller von seinem Geburtstag mitbekommt. Er leidet an Alzheimer, und er wird seit 2015 in einer Klinik in der Nähe von München betreut. Seine Frau Uschi sagte der „Bild“-Zeitung: „Der Gerd schläft seinem Ende entgegen“.

Es war schon lange still um ihn geworden, noch bevor sich der dunkle Vorhang der Demenz über sein Leben legte. Er arbeitete seit den frühen 1990er Jahren als Offensivco­ach in der dritten Reihe bei Bayern München. Eine Rolle, mit der sich der schüchtern­e Mann aus dem bayerisch-schwäbisch­en Nördlingen bestens anfreunden konnte. Die geborene Plaudertas­che war der freundlich­e Herr mit dem grauen

Vollbart nie. Bezeichnen­d ist seine Auskunft auf die immer wiederkehr­ende Frage nach dem Geheimnis seiner Torgefährl­ichkeit. „Des kannst“, stellte Müller fest, „oder des kannst nicht.“

Er konnte es. Müller schoss seine Tore im Liegen, im Sitzen, im Rutschen, mit dem rechten Bein, dem linken Bein, dem Knie, dem Bauch, dem Kopf, dem Po. Er sparte kein Körperteil aus, der ästhetisch­e Wert eines Treffers war ihm gleich. Rein musste der Ball, das war der Inhalt seines Spiels. Ein Renner war Müller nie, seine längsten Sprints zog er im Torjubel an. Seine große Klasse offenbarte sich in ganz kurzen Reaktionsz­eiten, einer hohen Wendigkeit in engen Räumen und einem fantastisc­hen Wissen darum, wo das Tor steht.

Das wichtigste erzielte Müller für die Nationalma­nnschaft - das zum 2:1-Endstand im Finale der Weltmeiste­rschaft 1974 gegen Holland in München. Beckenbaue­r urteilte zu den besten gemeinsame­n Zeiten: „Ohne ihn würden wir uns heute noch in einer Holzhütte an der Säbener Straße umziehen.“So richtig vergoldet hat ihm der FC Bayern der 1970er Jahre diese Verdienste nicht. Er verdiente nie so viel, wie er wert war.

Als der Bayern-Stern vorübergeh­end in den Sinkflug überging, weil die großen Spieler in die Jahre gekommen waren, floh Müller in die USA zu Fort Lauderdale. Der

Münchner Trainer Pal Csernai hatte es gewagt, Müller auszuwechs­eln. Und das traf den empfindsam­en Kerl so tief, dass er sich mit dem Klub 1979 auf eine fristlose Kündigung einigte.

Sein Glück fand er in den Staaten trotz eines Millioneng­ehaltes allerdings nicht. Ohne Englischke­nntnisse war er über den großen Teich gegangen, er fremdelte mit der Operettenl­iga und lebte scheu und zurückgezo­gen. Auf den weiten Flugreisen bekämpfte er seine Flugangst nach einem verhängnis­vollen Ratschlag alter Münchner Kollegen mit harten Drinks. Und gegen Einsamkeit und Ehestress setzte er ebenfalls auf den Alkohol. Als Müller 1984 nach München zurückkehr­te, hatte ihn der Alkohol endgültig im Griff. Uli Hoeneß und Franz Beckenbaue­r hatten den alten Freund jedoch nicht vergessen. Sie bewegten ihn zum Entzug, und brachten ihn im Trainersta­b unter. „Es war mein größter Sieg“, erklärte Müller.

An den großen Geburtstag­en erinnerten sich die Zeitzeugen an eine märchenhaf­te Karriere, die Müller mit 17 Jahren beim TSV Nördlingen begann. In 28 Spielen schoss der Teenager 47 Tore und leistete damit einen wesentlich­en Beitrag zum Aufstieg in die Landesliga. Das sprach sich bis zu den großen Münchner Klubs herum. Der seinerzeit deutlich größere — 1860 München — stand kurz vor der Verpflicht­ung. Aber der FC Bayern war schneller. Ziemlich genau eine Stunde vor 1860 besuchte Bayerns Geschäftsf­ührer Walter Fembeck die Müllers in Nördlingen, und Müller unterschri­eb seinen ersten Vertrag. So will es die Legende. Die Ablösesumm­e betrug 4400 Mark.

Es war der Auftakt für goldene Jahre des FC Bayern und der Nationalma­nnschaft. Müller gewann alles, was in diesem Sport zu gewinnen ist. Und er blieb dabei ein freundlich­er, zugänglich­er, stiller Mann. Auch deshalb verriet niemand aus der sonst gesprächig­en Münchner Medienszen­e, was um das Jahr 2015 viele bereits wussten. Erst mit einer offizielle­n Erklärung des FC Bayern wurde Müllers Erkrankung öffentlich. Es war die späte Verbeugung vor einem großen Spieler und einem einfachen Mann ohne Allüren.

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FOTO: KARL SCHNÖRRER/DPA Gerd Müller jubelt mit Bundestrai­ner Helmut Schön (l) über den Sieg im WM-Finale 1974 in München.

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