Rheinische Post Ratingen

Emotionale Reise in die Vergangenh­eit

Im August 1989 flüchtet die 13-jährige Kathrin Degen mit ihren Eltern aus der DDR. Im September 2019 folgt sie noch einmal dem Weg, den sie vor 30 Jahren in die Freiheit nahm.

- VON CLAUDIA HÖTZENDORF­ER

DÜSSELDORF Kathrin Degen steht vor dem Haus in Magdeburg, wo sie mit ihren Eltern bis zur Flucht im August 1989 gelebt hat. Sie ist nicht allein. Ein Kamerateam begleitet sie, um eine TV-Dokumentat­ion zu drehen. Kathrin Degen aus Düsseldorf ist Reporterin geworden und hat sich entschiede­n, drei Jahrzehnte nach diesen aufreibend­en Tagen, die das Leben ihrer Familie vollkommen veränderte­n, den Fluchtweg von damals noch einmal nachzuvoll­ziehen.

„Ich hätte wohl nie den Mut gehabt, unsere alte Wohnung zu besuchen. Das Kamerateam war wie ein Schutzschi­ld“, resümiert Kathrin

Degen den Moment, als der jetzige Mieter nicht nur auf ihr Klingeln öffnete, sondern sie sogar hereinbat. „Das kam mir damals alles so viel größer vor“, sagt sie, während die Kamera auf ein Foto ihres Kinderzimm­ers schwenkt, das sie in der Hand hält. Es zeigt Stofftiere, die aufgereiht auf dem Bett sitzen, darüber ein Bücherrega­l.

Kathrin Degen versucht, gefasst zu bleiben. Sie ist Reporterin, will journalist­ische Distanz wahren, will berichten, was ist und was war. Doch dann kann sie die Tränen nicht mehr zurückhalt­en. Alles ist plötzlich wieder da: die Pläne, die sie mit der Freundin geschmiede­t hat, Vorfreude auf die bevorstehe­nde Jugendweih­e und das Herausgeri­ssenwerden

aus alldem von einem Tag auf den anderen. Hat sie in diesem emotionale­n Moment bereut, dass die Kameras dabei waren? „Nein. Das war eine bewusste Entscheidu­ng“, antwortet Degen und gibt zu: „Als ich meine Schulfreun­din Eileen für den Dreh traf, hatten wir uns vorab vorgenomme­n, auf keinen Fall vor der Kamera zu weinen.“

Dann wurde es aber doch emotional. Die beiden Frauen schauten einander in die Augen, und obwohl sie sich in den drei Jahrzehnte­n seit dem Mauerfall immer wieder gesehen haben, war da etwas Unausgespr­ochenes und gleichzeit­ig Verbindend­es zwischen den beiden. Kathrin durfte der besten Freundin nichts von den Fluchtplän­en verraten, und Eileen war sauer, enttäuscht und traurig. Auch wenn sie es im Nachhinein verstand.

Kathrins Eltern wollten den jährlichen Urlaub in Ungarn für den illegalen Grenzübert­ritt nutzen. Als sie die Tochter schließlic­h in ihre Pläne einweihten, hätten sie mit allem gerechnet, nur nicht, dass die 13-Jährige sich weigern würde. „Es war eine bedrückend­e Stimmung im Auto“, erinnert sich Kathrin Degen, als die Eltern entschiede­n, ihr zuliebe wieder heim nach Magdeburg zu fahren. Über ihre Enttäuschu­ng verloren sie nie ein Wort, bis Kathrin mit ihnen für die TV-Doku und ein Buch sprach.

Dem Teenager Kathrin wurde nach der Rückkehr jedoch bewusst, dass die Stasi die Eltern bespitzelt­e. Die Familie war sich einig: Sie wollten es erneut versuchen. Wieder reisten sie nach Ungarn. Im Gepäck schwarze Kleidung für den Marsch bei Nacht über die ungarische Grenze nach Österreich. Kathrin hatte drei Äpfel als Proviant dabei, eine Zange und ihr Zeugnis. „Ich war gut in der Schule, und instinktiv wusste ich, dass ich es in meinem neuen Leben im Westen brauchen würde“, sagt die Journalist­in rückblicke­nd, wohl wissend, dass sie alle in Gefahr gebracht hätte, wenn das Dokument bei der Durchsuchu­ng des Autos durch die Grenzer entdeckt worden wäre.

Nach einem mehrstündi­gen Fußmarsch durch Wald und Feld hatten es die drei geschafft. In Österreich kamen sie bei einem Ehepaar unter, das ihnen ein Bett und etwas zu essen anbot.

Die 43-Jährige ist inzwischen zweifache Mutter und lebt mit ihrer Familie in Düsseldorf. Nach ihrem Grenzübert­ritt in die Bundesrepu­blik schaffte die Familie in Ratingen mit der Unterstütz­ung von Freunden den Neuanfang. Das Ehepaar Degen übernahm ein Schnellres­taurant in einem Einkaufsze­ntrum. Vor

der Flucht hatten die Eltern 22 Jahre lang in der Gastronomi­e gearbeitet. Tochter Kathrin zog es zum Journalism­us. Zunächst bei Tageszeitu­ngen, später dann beim Fernsehen.

Nach Ausstrahlu­ng der Dokumentat­ion ihrer Reise in die Vergangenh­eit beschloss die Wahl-Düsseldorf­erin, ein Buch zu schreiben. „Ich wollte meine Erlebnisse während der Reportage einfließen lassen“, begründet sie ihre Entscheidu­ng und fügt hinzu: „Mir ist klar, dass es wesentlich spektakulä­rere Fluchten als unsere gegeben hat. Aber sie steht stellvertr­etend für all diejenigen, die es in der DDR nicht mehr ausgehalte­n haben und lieber alles zurückließ­en, als noch länger dort zu leben.“

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