15 Jahre Klassik ohne Pause
Idagio ist der weltgrößte Audio-Streaming-Dienst für klassische Musik. Das Angebot ist exzellent – von legendären und aktuellen Alben bis zu Live-Konzertübertragungen.
BERLIN Über genau 58 Jahre meines Lebens hätte ich gesagt: Ich bin ein analoger Typ. Noch heute lege ich sehr gerne Langspielplatten aus Vinyl auf. Musik von CD höre ich lieber als vom Mp3-Player. Beim Streamen dachte ich immer an Spuren körperlicher Züchtigung. Und am liebsten gehe ich live ins Konzert und in die Oper. In der Düsseldorfer Tonhalle bevorzuge ich die Sitzpläne im Rang, weil man da besonders gut sieht und weil der alpine Aufstieg der Gesundheit förderlich ist.
Durch Corona hat sich das radikal verändert. Live ist abgesagt. Trotzdem möchte ich den Konzerten nicht ganz entraten. Deshalb habe ich jetzt den Streaming-Dienst Idagio getestet, der wegen seines riesigen Angebots an klassischer Musik führend sein soll. Ich bin da skeptisch, weil nach meiner unmaßgeblichen Meinung Streaming-Dienste ja derzeit wie Pilze aus dem Boden schießen. Wie viele davon problematisch oder geschmacklos sind, weiß ich nicht.
Die meisten Musik-Streamingdienste bieten einen breiten Katalog mit einer Vielzahl von Genres und Musikstilen, der Fokus liegt allerdings meist auf Popmusik. Dies erschwert es den Hörern, das Angebot nach klassischer Musik zu durchsuchen und Neues zu entdecken. Denn häufig werden nur drei Suchkategorien angeboten: Song, Künstler und Album. Aber zum Glück gibt es die Streaming-Plattform Idagio. Sie organisiert Klassik-Aufnahmen nach den speziellen Erfordernissen des Genres, zeigt sie auf benutzerfreundliche Weise an und lässt sich nach Komponist, Werk, Dirigent, Orchester, Solist und weiteren Kriterien sortieren und durchsuchen.
Das Schöne an Idagio ist die Vielgestaltigkeit des Angebots nach Nutzerinteressen. Weltweit ist es nämlich für viele Leute gleichsam als klassische Basisversorgung kostenlos verfügbar. Mit dem Start von „Idagio Free“können Hörer in 190 Ländern in die gesamte Welt der Klassik eintauchen. Der Idagio-Katalog umfasst über zwei Millionen Tracks, was aus Sicht des Nutzers 15 Jahre Klassik am Stück bedeutet. Darunter sind auch exklusive Aufnahmen mit Orchestern wie den Wiener Philharmonikern oder Dirigenten wie Sir Simon Rattle.
Schauen wir, was Idagio kann. Von dem französischen Komponisten Jehan Alain (1911 bis 1940) gibt es drei grandiose Orgelwerke, die „Trois Danses“. Die Suchfrage ergibt: Idagio hat sehr viele Aufnahmen gelistet, sogar die legendäre frühe Einspielung seiner Schwester Marie-Claire von 1974 an der Orgel der Kathedrale von Belfort. Erstaunlich! Auch Schnellsuchfragen funktionieren ergiebig: „Karajan Respighi“spuckt sämtliche Aufnahmen der „Pini di Roma“des Dirigenten aus, sowohl die aus Berlin als auch die aus London. Daneben werden etliche andere Einspielungen des Werks von anderen Dirigenten offeriert. Ich habe aufgehört, sie zu zählen. Jedenfalls ein Klick, und ich höre meinen Karajan.
Idagio covert aber auch ausgewählte Neuerscheinungen. Ich habe mir aktuell ein bisschen von Daniel Barenboims Aufnahme der Beethovenschen „Diabelli-Variationen“bei der Deutschen Grammophon angetan. Um es vorsichtig zu sagen: sehr schwierig. Ich vermute, der Pianist hatte nicht viel Zeit zum Üben. Topfiges und holpriges Spiel, fast unterkomplex, kein Vergleich etwa mit András Schiff. Das konnte Barenboim mal besser. Wie kostbar dagegen die erhebende Aufnahme von Messen des französischen Barockkomponisten Marc-Antoine Charpentier.
Mein Lieblingsangebot ist „Legendary Albums“. Tatsächlich haben hier Kenner mit Sinn und Verstand ausgewählt. Beispiele? Brahms’ Vierte unter Carlos Kleiber, Mahler-Lieder mit Janet Baker unter John Barbirolli, Gershwins „Porgy and Bess“unter Simon Rattle, Mozarts „Sinfonia concertante“mit
Itzhak Perlman und Pinchas Zukerman, „Tosca“mit Maria Callas, Liszts Klaviersonate h-Moll mit der jungen Martha Argerich. Ja, das sind die Evergreens. Man kommt aus dem Schwärmen und Klicken gar nicht heraus. Wer faul ist, sucht sich Musik nach Stimmung aus, ich höre heute beim Schreiben „Meditativ“. Da gibt es ebenfalls nur Feines, keine Konservenware. In diesem Moment läuft der langsame Satz aus Mozarts „Gran Partita“. Gleich kommt das unbekannte Violinkonzert von Ermanno Wolf-Ferrari. Ich freue mich drauf, kenne ich noch nicht.
Und schließlich kann man mit Idagio ins Konzert gehen, etwa am kommenden Dienstag, 10. November, in die Londoner Royal Festival Hall. Dort spielt das Philharmonia Orchestra unter der jungen Dirigentin Elim Chan mit dem Violinsolisten Sergey Khachatryan, es erklingen Werke von Mendelssohn. Das Ticket kostet 10,90 Euro. 80 Prozent der Einnahmen zahlt Idagio direkt an die Künstler. Auch eine Form des Artenschutzes.
Ein richtiges Live-Erlebnis kann das alles nicht ersetzen. Trotzdem ist man dabei. In diesen Zeiten und für Menschen, die nicht oder nicht mehr mobil sind, ist das ein unschätzbarer Gewinn. Sogar für Typen, die viele Jahre analog waren.