Rheinische Post Ratingen

Panoramafe­nster ins Grenzenlos­e

Gerhard Richters gewaltiges Gemälde „Himmel“ist noch niemals öffentlich gezeigt worden. Nach dem Ende des Corona-Lockdowns kann man es im Essener Folkwang-Museum erstmals betrachten. Die Wirkung ist überwältig­end.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

ESSEN Es gibt Menschen, die müssen schmunzeln oder seufzen, wenn sie etwas besonders Schönes und Überwältig­endes betrachten. Und wenn diese Menschen das Gemälde von Gerhard Richter sehen, das nun im Museum Folkwang hängt, werden sie ganz sicher so reagieren: mit einem Schmunzeln oder Seufzen.

„Himmel“heißt das mehr als drei Meter hohe und zweieinhal­b Meter breite Bild, das soeben dort eingezogen ist. Eine Sensation. Denn die Arbeit aus dem Jahr 1978 wurde nie öffentlich gezeigt. Sammler aus Essen kauften sie einst direkt aus Gerhard Richters Atelier. Das Paar, das ungenannt bleiben möchte, besaß bereits Arbeiten des heute 88-jährigen Künstlers. Um das Werk überhaupt hängen zu können, haben die Eigentümer ihr Haus mit viel Aufwand umbauen lassen, berichtet Folkwang-Chef Peter Gorschlüte­r. Vier Jahrzehnte blieb es in den Privaträum­en. Es gab zwar Anfragen von Museen und Kuratoren, das Bild auszustell­en. Alle wurden jedoch abgelehnt. Nun möchte das Paar es zeigen: Direkt nach Ende des Lockdowns kann man es besuchen.

Das Bild mutet bemerkensw­ert frisch an, als wären die Farben noch feucht. Es scheint zu leuchten. Kein Pinselstri­ch ist zu erkennen. Am unteren Rand sind Wolken zu sehen, hellbraun und zunächst beige, dann weiß auskragend. Der rechte Bildrand wird nach oben hin immer dunkler, die obere Ecke ist die dunkelste Stelle des Bildes. Das Gros der Fläche zeigt reine Atmosphäre, verschwomm­ene Transparen­z, geronnene Unbestimmt­heit, totale Transzende­nz.

Man denkt an William Turner, den englischen Maler des Wetters. Und an Brecht und seinen schönen Wolken-Vers: „Sie war sehr weiß und ungeheuer oben“. Man wird geradezu eingesogen von diesem Bild, dessen Weißheit sich nach links aus dem Format hinaus verlängert, über die Wand und schließlic­h zur Fensterfro­nt des Museums und hinaus nach draußen. „Himmel“öffnet den Raum und weitet den Blick des Betrachter­s.

Potenziert wird die Wirkung des Bildes von der Tatsache, dass man hier als erster auf einen bislang verborgen gebliebene­n Schatz schauen darf. Nennen wir es einfach mal den Schliemann-Effekt: zum ersten Mal Troja sehen. Auf die Frage, welchen Wert „Himmel“wohl habe, schütteln die Fachleute energisch den Kopf. Hoffentlic­h komme es nie auf den Markt, sagt Gorschlüte­r.

Und falls doch? Dann wäre es sicher sehr, sehr, sehr, sehr begehrt. Vier Mal sehr.

Dass es das Bild gibt, war immer bekannt; es findet sich im Werkverzei­chnis, das im Internet zu besichtige­n ist. 30 Wolken-Bilder habe

Gerhard Richter zwischen 1968 und 1979 gemalt, erzählt Anna Fricke, die den Bereich zeitgenöss­ische Kunst im Museum Folkwang betreut. Dieses sei das vorletzte und habe einen besonderen Stellenwer­t. Als einziges trage es den Titel „Himmel“, außerdem sei es nicht im Landschaft­sformat gehalten, sondern im hohen Porträtfor­mat. Und genau genommen zeige es ja nicht mal eine Wolke, nicht hauptsächl­ich jedenfalls. Das Zentrum des Bildes besteht vielmehr aus Dunst, Luft und Licht. Aus dem, was man eigentlich gar nicht malen kann.

Als Grundlage für das Bild diente Gerhard Richter eine selbstgema­chte Fotografie. „Himmel“zeigt also im Grunde weder Wolke noch Himmel, sondern lediglich eine Fotografie, die Wolke und Himmel zeigt. Richter bringt die Reflexion über das Bild in das Bild hinein. Und Peter Gorschlüte­r weist darauf hin, dass Richter hier bereits die Hinwendung zur Abstraktio­n andeutet. Fotorealis­tische Abstraktio­n gewisserma­ßen.

In Essen hängt Richters Werk in einem Raum, der „La Vague“genannt wird, nach dem Bild von Gustave Courbet aus dem Jahr 1870. Es zeigt das Meer, wie es sich vor dem Fenster des Franzosen darbot: rau, wild, ungestüm. Es ergänzt Richters Sichtweise und Verfahren: zwei Arten, der Natur nahezukomm­en.

Man mag sich nicht abwenden von Richters Bild. Gerade jetzt hat es etwas Erhebendes. Es öffnet ein Panoramafe­nster ins Grenzenlos­e, lässt den Betrachter in eine Welt blicken, die ohne uns stattfinde­t, wie Hubertus Butin in dem neuen Kunstband über Richters „Landschaft“schreibt. Und auch der Satz, den der teuerste Künstler der Welt selbst sagte, als er 2006 seine Fenster für den Kölner Dom vorstellte, kommt einem in den Sinn: Ohne den Glauben an eine höhere Macht oder etwas Unbegreifl­iches könne er nicht leben.

Man verlässt das Museum angeregt. Mehr schmunzeln­d als seufzend.

 ?? FOTO: © GERHARD RICHTER 2020 (0138) ?? Das mehr als drei Meter hohe Bild „Himmel“malte Gerhard Richter im Jahr 1978 auf Basis einer seiner Fotografie­n. Ein Sammler-Paar hatte es direkt aus dem Atelier des Künstlers gekauft.
FOTO: © GERHARD RICHTER 2020 (0138) Das mehr als drei Meter hohe Bild „Himmel“malte Gerhard Richter im Jahr 1978 auf Basis einer seiner Fotografie­n. Ein Sammler-Paar hatte es direkt aus dem Atelier des Künstlers gekauft.

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