Hinterm Bahnhof ist es doch schön!
No-go-Area oder Hinterhof der Stadt: Über Oberbilk hagelt es häufig Negativzuschreibungen. Dem zum Trotz leben viele Menschen gerne im Viertel hinter dem Hauptbahnhof. Über das Lebensgefühl verfasst unsere Autorin ein Buch.
DÜSSELDORF Nicht einmal anderthalb Kilometer trennen die Königsallee und den Bertha-von-SuttnerPlatz voneinander – und doch liegen Welten dazwischen. Während auf der Prachtmeile das Düsseldorf-Klischee lebt, wachsen in Oberbilk die Sperrmüllberge in den Himmel – und das nicht nur an den Tagen, an denen er tatsächlich abtransportiert wird. „Mann, ist das schmutzig hier“, mag der eine oder andere denken, der aus Angermund stammt, aus Gerresheim oder Urdenbach. Jene Oberbilker, die die Gentrifizierung fürchten, jubilieren daraufhin innerlich. Ihr Viertel soll schließlich nicht das neue Flingern-Nord werden. Ein kämpferischer Slogan, der hinter dem Hauptbahnhof auf so mancher Wand prangt, formuliert die Hoffnung als Fakt: „Oberbilk bleibt dreckig“.
Die ganze Wahrheit ist das natürlich nicht, vermutlich nicht mal die halbe. Oberbilk ist nicht so dreckig, wie die Peripherie-Düsseldorfer es empfinden. Es ist aber auch nicht so schick und trendy, wie Immobilienentwickler ihre potenziellen Kunden glauben machen möchten. Es ist nicht so gefährlich, wie einige Medien suggerieren, die von „Messermännern“zu berichten wissen und von Waffenlagern raunen. Und natürlich ist es nicht so harmlos wie Bad Kissingen.
Oberbilk besticht in erster Linie durch Vielfalt und Lebendigkeit. Zwischen Hauptbahnhof und Mitsubishi-Electric-Halle, zwischen Moskauer Straße und Dreiecksplatz eröffnet sich eine kunterbunte, lärmende, quicklebendige Welt, in der es mancherorts nach frisch gebackenem Brot duftet, mancherorts nach Shisha riecht und anderswo nach Urin stinkt. Wo andere Stadtteile homogen daherkommen, wartet in Oberbilk hinter jeder Ecke eine neue Überraschung, ein anderer Kiez.
„Ich mag es gerne, wenn man auf die Straße geht, und da ist Leben, egal welcher Art“, sagt der Musiker Stefan Schneider, der seit 2016 in Oberbilk wohnt. Wenn er nicht gerade unterwegs ist, in Griechenland,
Japan oder Belgien, beginnt sein Tag regelmäßig in einem marokkanischen Café, das einen Steinwurf von seiner Wohnung entfernt liegt: dem Café Mamounia. Dort trinkt er den ersten Kaffee des Tages, manchmal allein, oft auch mit seiner Freundin, der japanischen Musikerin und Künstlerin Miki Yui. Schneider hat sein ganzes Leben in Düsseldorf verbracht. In mehr als fünf Jahrzehnten hat er in Derendorf gewohnt, in Bilk, Eller, Pempelfort, Unterbilk und jetzt eben Oberbilk. Es sei eine Qualität des Quartiers hinter dem
Bahnhof, „dass auch Menschen, die keine Karriere verfolgen, hier einen Platz finden, dass es Schlupflöcher für freakige Lebensentwürfe gibt“, findet Schneider.
Um das Viertel verstehen zu können, muss man nicht nur seine Geschichten, sondern auch seine Geschichte kennen. Vor 200 Jahren bestand Oberbilk aus gerade einmal 30 bebauten Grundstücken. Dann kam die Stahlindustrie. 1852 eröffnete das erste Stahlwerk auf Oberbilker Boden. Innerhalb weniger Jahrzehnte entwickelte sich der
Stadtteil von einem ausschließlich landwirtschaftlich geprägten Quartier zu einem der wichtigsten Industriestandorte in ganz Europa. Die Mehrzahl der Arbeitskräfte wanderte dabei aus recht unterschiedlichen Regionen und Milieus zu. Die Ersten kamen Mitte des 19. Jahrhunderts aus der Eifel und der belgischen Wallonie. Ihnen folgten Anfang des 20. Jahrhunderts Arbeiter aus Ostpreußen und Polen, bevor ab den 1950er-Jahren in Griechenland, Italien, Spanien, Portugal, Jugoslawien, der Türkei und Marokko
sogenannte Gastarbeiter angeworben wurden.
Heute verbindet man das Viertel in erster Linie mit der maghrebinischen Gemeinde, ihren Gemüseläden, Kulturvereinen, Shisha-Bars, Friseuren und Grillrestaurants. Schon seit Jahren trägt Oberbilk den Beinamen „Klein-Marokko“. Dabei stammen die Bewohner aus allen erdenklichen Winkeln der Welt. Rund 30.000 Menschen leben im Stadtteil. Sie kommen aus Vietnam, Russland, Italien, Südkorea oder Kolumbien.
Oder aus Deutschland wie Mithu M. Sanyal. Die Autorin und Journalistin, deren Haut nach ihrer eigenen Beschreibung „in etwa den Ton von Tee mit einem Tropfen Milch hat“, bekam jenseits von Oberbilk häufig Ablehnung zu spüren. Hinter dem Bahnhof mache sie solche Erfahrungen nicht, erzählt sie: „Hier fühle ich mich nicht als Fremdkörper. Ich werde zum ersten Mal regelmäßig auf der Straße gegrüßt. Und gleichzeitig lassen sich die Leute hier gegenseitig sein, wie sie halt sind.“
Einen Diversity-Beauftragten, wie ihn mittlerweile viele Unternehmen benennen, braucht es dafür nicht. In Oberbilk ist Diversität schon seit Jahren gelebter Alltag.