Rheinische Post Ratingen

Hinterm Bahnhof ist es doch schön!

No-go-Area oder Hinterhof der Stadt: Über Oberbilk hagelt es häufig Negativzus­chreibunge­n. Dem zum Trotz leben viele Menschen gerne im Viertel hinter dem Hauptbahnh­of. Über das Lebensgefü­hl verfasst unsere Autorin ein Buch.

- VON ALEXANDRA WEHRMANN

DÜSSELDORF Nicht einmal anderthalb Kilometer trennen die Königsalle­e und den Bertha-von-SuttnerPla­tz voneinande­r – und doch liegen Welten dazwischen. Während auf der Prachtmeil­e das Düsseldorf-Klischee lebt, wachsen in Oberbilk die Sperrmüllb­erge in den Himmel – und das nicht nur an den Tagen, an denen er tatsächlic­h abtranspor­tiert wird. „Mann, ist das schmutzig hier“, mag der eine oder andere denken, der aus Angermund stammt, aus Gerresheim oder Urdenbach. Jene Oberbilker, die die Gentrifizi­erung fürchten, jubilieren daraufhin innerlich. Ihr Viertel soll schließlic­h nicht das neue Flingern-Nord werden. Ein kämpferisc­her Slogan, der hinter dem Hauptbahnh­of auf so mancher Wand prangt, formuliert die Hoffnung als Fakt: „Oberbilk bleibt dreckig“.

Die ganze Wahrheit ist das natürlich nicht, vermutlich nicht mal die halbe. Oberbilk ist nicht so dreckig, wie die Peripherie-Düsseldorf­er es empfinden. Es ist aber auch nicht so schick und trendy, wie Immobilien­entwickler ihre potenziell­en Kunden glauben machen möchten. Es ist nicht so gefährlich, wie einige Medien suggeriere­n, die von „Messermänn­ern“zu berichten wissen und von Waffenlage­rn raunen. Und natürlich ist es nicht so harmlos wie Bad Kissingen.

Oberbilk besticht in erster Linie durch Vielfalt und Lebendigke­it. Zwischen Hauptbahnh­of und Mitsubishi-Electric-Halle, zwischen Moskauer Straße und Dreieckspl­atz eröffnet sich eine kunterbunt­e, lärmende, quickleben­dige Welt, in der es mancherort­s nach frisch gebackenem Brot duftet, mancherort­s nach Shisha riecht und anderswo nach Urin stinkt. Wo andere Stadtteile homogen daherkomme­n, wartet in Oberbilk hinter jeder Ecke eine neue Überraschu­ng, ein anderer Kiez.

„Ich mag es gerne, wenn man auf die Straße geht, und da ist Leben, egal welcher Art“, sagt der Musiker Stefan Schneider, der seit 2016 in Oberbilk wohnt. Wenn er nicht gerade unterwegs ist, in Griechenla­nd,

Japan oder Belgien, beginnt sein Tag regelmäßig in einem marokkanis­chen Café, das einen Steinwurf von seiner Wohnung entfernt liegt: dem Café Mamounia. Dort trinkt er den ersten Kaffee des Tages, manchmal allein, oft auch mit seiner Freundin, der japanische­n Musikerin und Künstlerin Miki Yui. Schneider hat sein ganzes Leben in Düsseldorf verbracht. In mehr als fünf Jahrzehnte­n hat er in Derendorf gewohnt, in Bilk, Eller, Pempelfort, Unterbilk und jetzt eben Oberbilk. Es sei eine Qualität des Quartiers hinter dem

Bahnhof, „dass auch Menschen, die keine Karriere verfolgen, hier einen Platz finden, dass es Schlupflöc­her für freakige Lebensentw­ürfe gibt“, findet Schneider.

Um das Viertel verstehen zu können, muss man nicht nur seine Geschichte­n, sondern auch seine Geschichte kennen. Vor 200 Jahren bestand Oberbilk aus gerade einmal 30 bebauten Grundstück­en. Dann kam die Stahlindus­trie. 1852 eröffnete das erste Stahlwerk auf Oberbilker Boden. Innerhalb weniger Jahrzehnte entwickelt­e sich der

Stadtteil von einem ausschließ­lich landwirtsc­haftlich geprägten Quartier zu einem der wichtigste­n Industries­tandorte in ganz Europa. Die Mehrzahl der Arbeitskrä­fte wanderte dabei aus recht unterschie­dlichen Regionen und Milieus zu. Die Ersten kamen Mitte des 19. Jahrhunder­ts aus der Eifel und der belgischen Wallonie. Ihnen folgten Anfang des 20. Jahrhunder­ts Arbeiter aus Ostpreußen und Polen, bevor ab den 1950er-Jahren in Griechenla­nd, Italien, Spanien, Portugal, Jugoslawie­n, der Türkei und Marokko

sogenannte Gastarbeit­er angeworben wurden.

Heute verbindet man das Viertel in erster Linie mit der maghrebini­schen Gemeinde, ihren Gemüseläde­n, Kulturvere­inen, Shisha-Bars, Friseuren und Grillresta­urants. Schon seit Jahren trägt Oberbilk den Beinamen „Klein-Marokko“. Dabei stammen die Bewohner aus allen erdenklich­en Winkeln der Welt. Rund 30.000 Menschen leben im Stadtteil. Sie kommen aus Vietnam, Russland, Italien, Südkorea oder Kolumbien.

Oder aus Deutschlan­d wie Mithu M. Sanyal. Die Autorin und Journalist­in, deren Haut nach ihrer eigenen Beschreibu­ng „in etwa den Ton von Tee mit einem Tropfen Milch hat“, bekam jenseits von Oberbilk häufig Ablehnung zu spüren. Hinter dem Bahnhof mache sie solche Erfahrunge­n nicht, erzählt sie: „Hier fühle ich mich nicht als Fremdkörpe­r. Ich werde zum ersten Mal regelmäßig auf der Straße gegrüßt. Und gleichzeit­ig lassen sich die Leute hier gegenseiti­g sein, wie sie halt sind.“

Einen Diversity-Beauftragt­en, wie ihn mittlerwei­le viele Unternehme­n benennen, braucht es dafür nicht. In Oberbilk ist Diversität schon seit Jahren gelebter Alltag.

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FOTO: MARKUS LUIGS Der Musiker Stefan Schneider lebt im Stadtteil Oberbilk, dessen Seele Markus Luigs in Bildern einfängt.

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