Rheinische Post Ratingen

Die sechsfache Anne Frank

Im Livestream zeigte das Ensemble des Jungen Schauspiel­s eine öffentlich­e Probe.

- VON REGINA GOLDLÜCKE

DÜSSELDORF Es sollte der Tag der Uraufführu­ng von „Liebe Kitty“im Jungen Schauspiel sein. Stattdesse­n wurde das Stück im Livestream in die virtuelle Welt geschickt. Um die 275 Zuschauer schalteten sich bei der Voraufführ­ung und der anschließe­nden Gesprächsr­unde mit dem Ensemble zu. Dramaturg David Benjamin Brückel gab zuvor eine kurze Einführung in das „Vermächtni­s einer angehenden Schriftste­llerin.“Anne Frank hatte 1944 in den letzten Monaten ihres Amsterdame­r Verstecks ihre später berühmt gewordenen Tagebücher überarbeit­et und sich mit Kitty eine imaginäre Brieffreun­din zur Seite gestellt.

Regisseur Jan Gehler spaltete in seiner Version die historisch­e Figur auf und überließ ihre Darstellun­g sechs Schauspiel­ern. „Es gibt so viele verschiede­ne Sichtweise­n auf Anne Frank“, begründet er, „ich wollte mehr Stimmen, Körper und Perspektiv­en, um alles flexibler zu halten.“

Im Livestream standen allerdings nur fünf aus dem Ensemble auf der von Ansgar Prüwer karg ausstaffie­rten Bühne: Ali Aykar, Felicia Chin-Malenski, Natalie Hanslik, Ron Iyamu und Eduard Lind. Es fehlte Eva Maria Schindele. Sie musste sich kurzfristi­g in Corona-Quarantäne begeben, wird aber, wie der Regisseur versichert­e, bei der für Dezember geplanten Uraufführu­ng wieder dabei sein. Ihr Text wurde auf die fünf anderen verteilt. Das funktionie­rte schon deshalb reibungslo­s, weil ohnehin alle neben Anne Frank auch die weiteren Rollen spielen – was zunächst etwas Gewöhnung verlangt. Empfohlen wird „Liebe Kitty“für Zuschauer ab zehn Jahren.

Ein abgelausch­ter Aufruf von „Radio Oranje“, man möge Tagebücher und Aufzeichnu­ngen aus den schrecklic­hen Kriegsjahr­en zusammentr­agen, bringt Anne Frank auf eine Idee: „Und wenn ich einen Roman über das Hinterhaus schreiben würde?“In dem Fragment berichtet sie ihrer Freundin Kitty von der Flucht ins Versteck, der beklemmend­en Enge, den zunehmende­n Zänkereien. Ihren Vater liebt Anne, auf die Mutter sieht sie mit Verachtung herab, sie und Schwester Margot könnten ihr den Buckel runterruts­chen. Die Schauspiel­er verdeutlic­hen eindrucksv­oll die Träume, die Ängste und auch die Wut des jungen Mädchens, das ständig gemaßregel­t wird. Anne begehrt auf und wendet sich an Kitty: „Gib mir die Kraft, weiterhin zu erkunden, was es bedeutet, eine Frau zu sein.“Mal ist sie verzweifel­t, mal zuversicht­lich: „Der ganze Erdball führt Krieg, trotzdem werden wir wieder Scherze machen.“

Dem Ensemble hat die sechsfache Anne gefallen. „So lässt es sich wütender sein als alleine“, sagt Ron Iyamu. Und wie war das einsame Spielen im zwangsweis­e leeren Theater? „Anders als sonst bei einer geschlosse­nen Probe“, antwortet er. „Man war schon verbunden mit den Geräten zu Hause. Auch ohne die Reaktion des Publikums war eine Energie da.“

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FOTO: THOMAS RABSCH Natalie Hanslik (vorn) und Eva Maria Schindele (hinten, als Schatten) in „Liebe Kitty“nach dem Romanentwu­rf von Anne Frank.

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