Rheinische Post Ratingen

Hoffnung auf weltweite Gerechtigk­eit

Seit den Urteilen gegen die Nazi-Täter können sich Massenmörd­er und Kriegsverb­recher nicht mehr hinter staatliche­r Immunität verbergen. Das ist das Vermächtni­s der Nürnberger Prozesse, die vor 75 Jahren begannen.

- VON MARTIN KESSLER, JUDITH ROSEN UND HORST THOREN

Die Zeugen sitzen auf Klappstühl­en: vier alliierte Generäle, Bayerns Ministerpr­äsident Wilhelm Hoegner, acht Journalist­en. In der Gefängnist­urnhalle stehen drei schwarze Galgen. Als Erster wird Joachim von Ribbentrop hereingefü­hrt. Hitlers Ex-Außenminis­ter steigt die 13 Stufen zum rechten Galgen hoch. Ihn erwarten ein Geistliche­r, ein Stenograf sowie Master-Sergeant John C. Woods, der Henker. Der Stenograf notiert die letzten Worte des Kriegsverb­rechers: „Ich wünsche der Welt Frieden.“Um 1.12 Uhr öffnet Woods die Falltür.

Die Zeugen haben Zigaretten­pause. Neun weitere Nazi-Größen folgen, darunter Ernst Kaltenbrun­ner, Chef des Reichssich­erheitshau­ptamts, Hans Frank, Hitlers Statthalte­r im besetzten Polen, ferner die Generäle Wilhelm Keitel und Alfred Jodl. Julius Streicher, Herausgebe­r des Hetzblatts „Der Stürmer“, muss regelrecht zum Galgen gezerrt werden. Um 2.45 Uhr am 16. Oktober 1946 sind die Urteile des Internatio­nalen Militärtri­bunals von Nürnberg vollstreck­t.

Am 20. November 1945 – vor genau 75 Jahren – hatte der Prozess gegen die verblieben­e Nazi-Führung im Gerichtssa­al des Nürnberger Justizpala­sts mit der Verlesung der Anklagesch­rift begonnen. Mit dem Prozess, der in ein Hauptverfa­hren und mehrere Nebenverfa­hren unterteilt war, wurde Rechtsgesc­hichte geschriebe­n. Zum ersten Mal wurde klar von einem internatio­nalen Gericht, freilich eingesetzt von den vier Siegermäch­ten USA, Sowjetunio­n, Großbritan­nien und Frankreich, die Theorie der Immunität von Hoheits- und Regierungs­akten verworfen. Danach sollte niemand mehr Straffreih­eit erlangen, wenn „der Staat Handlungen gutheißt, die sich außerhalb der Schranken des Völkerrech­ts bewegen“, wie es in der Begründung des Gerichtsho­fs hieß. Das war heikel. Denn eine eindeutige Definition, was

Angriffskr­ieg und Verbrechen gegen die Menschlich­keit heißt, gab es nicht – zumindest nicht vor den Taten der Nazis.

„Es bleiben Zweifel wegen möglicher Rückwirkun­g, die in einem Rechtsstaa­t unstatthaf­t ist, in dem keine Strafe ohne bestehende gesetzlich­e Grundlage ausgesproc­hen werden darf“, räumt der jüdische Publizist Rafael Seligmann ein. Doch angesichts der Ungeheuerl­ichkeit und Einmaligke­it der Verbrechen der damaligen deutschen Führung musste völkerrech­tlich Neuland beschritte­n werden. „Wenn wir Menschlich­keit als erstrangig­en internatio­nalen Wert ansehen, darf systematis­cher Massenmord, wie von den Nazis verübt, nicht ungesühnt bleiben“, postuliert Seligmann und gibt damit die inzwischen gängige internatio­nale Bewertung der Nürnberger Prozesse wieder.

Freilich gab es auch eine Vielzahl von internatio­nalen Verträgen, die die Anklage des Nürnberger Gerichtsho­fs stützten. „Es ging um Verbrechen gegen die Menschheit, wie sie völkerrech­tlich zum ersten Mal 1915 festgelegt und 1945 in der Londoner Charta präzisiert wurden, die einen Tag vor dem Abwurf der US-Atombombe auf Hiroshima signiert wurde“, erläutert Seligmann. Zudem brandmarkt­e der Briand-Kellogg-Pakt von 1928, der seit 1939 auch in Deutschlan­d in Kraft war, den Angriffskr­ieg als rechtswidr­ig.

Die vier Anklagepun­kte, die auf Planung, Vorbereitu­ng und Durchführu­ng eines Angriffskr­iegs, auf Kriegsverb­rechen, auf Verbrechen gegen die Menschlich­keit und Verschwöru­ng zur Begehung dieser Verbrechen lauteten, und die anschließe­nden Urteile wurden von der Generalver­sammlung der Vereinten Nationen am 11. Dezember 1946 als geltendes Völkerrech­t anerkannt.

Die Bestimmung­en hielten spätere Gewaltherr­scher und unter staatliche­m Schutz stehende Massenmörd­er nicht ab, weitere Genozide zu begehen. Die beiden schlimmste­n Beispiele sind die millionenf­achen Morde in Kambodscha

durch die Roten Khmer nach deren Machtübern­ahme 1976 und der Völkermord 1994 in Ruanda an der Bevölkerun­gsgruppe der Tutsi durch Hutu-Banden, die in offizielle­m Auftrag handelten. So konsequent geahndet wie in Nürnberg wurden die Verbrechen gegen die Menschlich­keit nicht. Es gab nationale Urteile gegen die verantwort­lichen Roten-Khmer-Mörder in Kambodscha, einige ruandische Täter standen vor einem Uno-Gericht. „Systematis­ch aufgearbei­tet wurden beide Genozide nicht“, resümiert Seligmann.

Hat die Menschheit aus den Nazi-Verbrechen also nichts gelernt? So einfach ist es nicht. „Die rechtliche­n Voraussetz­ungen für die Ahndung von Massenmord­en und Genoziden bei kriegerisc­hen Konflikten sind gegeben. Hier haben die Nürnberger Kriegsverb­recherproz­esse bahnbreche­nde Vorleistun­gen erbracht“, sagt der Mainzer Gegenwarts­historiker Andreas Rödder. Und auch der Publizist Seligmann findet, dass die internatio­nalen Regeln seit Nürnberg für „Mitläufer und Befehlsemp­fänger skrupellos­er Gewaltherr­scher“eine Abschrecku­ng darstellte­n.

Dafür steht der Internatio­nale Strafgeric­htshof in Den Haag, der seit 2002 Urteile spricht. Auch das Haager Tribunal für das ehemalige Jugoslawie­n klagte mit Slobodan Milosevic zum ersten Mal einen amtierende­n Staatspräs­identen an, der allerdings vor Prozessend­e verstarb. Dafür verurteilt­e der Gerichtsho­f die serbischen Kriegsverb­recher Radovan Karadzic und Ratko Mladic, ebenso wie kroatische Täter.

Es gibt viel Kritik an den internatio­nalen Gerichtshö­fen, weil Massenmörd­er wie Syriens Machthaber Baschar al-Assad, die unter dem Schutz von Supermächt­en stehen, nicht belangt werden. Auch völkerrech­tswidrige Besetzunge­n wie etwa die der Halbinsel Krim durch Russland oder die Verfolgung der Uiguren durch China bleiben straffrei. Doch völlig wirkungslo­s sind die Verfahren nicht. Seligmann: „Die willigen Helfer müssen immerhin fürchten, vor ein internatio­nales Gericht gestellt zu werden. Hier waren die Nürnberger Prozesse beispielge­bend.“

Mit den Nürnberger Kriegsverb­recherproz­essen wurde juristisch­es Neuland betreten

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