Rheinische Post Ratingen

Ein Friedensno­belpreistr­äger führt Krieg

Äthiopiens Ministerpr­äsident Abiy Ahmed geht mit Waffengewa­lt gegen die abtrünnige Region Tigray vor. Der Krieg könnte Tausende Todesopfer fordern und die Region ins Chaos stürzen.

- VON PHILIPP HEDEMANN

ADDIS ABEBA Im vergangene­n Jahr erhielt er den Friedensno­belpreis, jetzt führt er Krieg im eigenen Land: Mit einer großen Militäroff­ensive geht Äthiopiens Ministerpr­äsident Abiy Ahmed gegen die abtrünnige Provinz Tigray vor. Hunderte sollen bereits gestorben sein, Zehntausen­de flohen vor den Kämpfen, es droht eine humanitäre Katastroph­e. Der Bürgerkrie­g könnte sich auf weitere Landesteil­e ausweiten und das ganze Horn von Afrika destabilis­ieren.

Als Abiy – in Äthiopien werden selbst Regierungs­chefs mit dem Vornamen angesproch­en – am 2. April 2018 zum Regierungs­chef ernannt wurde, überrascht­e der bis dahin loyale Funktionär des seit 1991 mit eiserner Hand regierende­n repressive­n Systems Äthiopien und die Welt mit einem atemberaub­enden Reformtemp­o. Der jüngste Regierungs­chef Afrikas ließ Tausende von politische­n Gefangenen und Journalist­en frei, besetzte sein Kabinett zur Hälfte mit Frauen, begeistert­e sein Volk mit einer Rhetorik von Liebe und Versöhnung

– und beendete nach mehr als 18 Jahren den Krieg mit dem Nachbarlan­d Eritrea. Dem Konflikt waren bis zu 100.000 Menschen zum Opfer gefallen. Im mit rund 110 Millionen Einwohnern zweitbevöl­kerungsrei­chsten Staat Afrikas brach zunächst eine regelrecht­e Abiy-Mania aus. Doch davon ist nichts mehr zu spüren. Äthiopien ist seit Anfang November im Bürgerkrie­g.

Der Konflikt zwischen Abiy und der Regionalre­gierung in Tigray schwelt bereits seit dessen Amtsüberna­hme vor zweieinhal­b Jahren. Denn: Abiy Ahmed will in Äthiopien den Zentralsta­at stärken und die in der Verfassung verankerte Autonomie der ethnisch geprägten Regionen schwächen. Dies stieß vor allem in der nördlichen Region Tigray auf erbitterte­n Widerstand. Denn Tigray hatte 1991 beim Sturz des kommunisti­schen Diktators Mengistu Haile Mariam eine wesentlich­e Rolle gespielt und deshalb bis zum Amtsantrit­t Abiys in ganz Äthiopien übermäßig großen politische­n Einfluss.

Um Äthiopien zu einen, hatte Abiy eine Einheitsre­gierung gebildet, der die Partei „Volksbefre­iungsfront von Tigray“(TPLF) jedoch nicht beitrat. Als Abiy zu Beginn der Pandemie im Frühjahr die ursprüngli­ch geplanten Wahlen verschiebe­n ließ, organisier­te Tigray im September gegen den Willen der Regierung selbst Wahlen. Die TPLF soll dabei mehr als 98 Prozent der Stimmen erhalten haben. Die Zentralreg­ierung erkannte das Ergebnis nicht an. Anfang November setzte Abiy die Regierung in Tigray ab. Nach Angaben

der Regierung in Addis Abeba überfiel die TPLF daraufhin einen Stützpunkt der Armee und gelangte so in den Besitz schwerer Waffen. Der Bürgerkrie­g brach aus.

Abiy befahl der äthiopisch­en Armee, Stellungen der Aufständis­chen aus der Luft und mit Bodentrupp­en anzugreife­n. Mittlerwei­le wird nicht nur in Äthiopien gekämpft. Weil sie Eritrea vorwirft, die Regierung in Addis Abeba zu unterstütz­en, griff die TPLF Ende vergangene­r Woche auch den Flughafen in Asmara an, der Hauptstadt des angrenzend­en Eritreas. Auf Twitter und in Fernsehans­prachen berichtet Abiy, dass die äthiopisch­e Armee große Teile Tigrays bereits „befreit“habe und die Armee große Bodengewin­ne mache. Unabhängig bestätigen lassen sich die Berichte nicht. Über Tigray wurde der Ausnahmezu­stand verhängt, Internet- und Telefonver­bindungen wurden gekappt, Straßen abgeriegel­t, Journalist­en und unabhängig­en Beobachter­n wird der Zugang zum Kriegsgebi­et verwehrt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass es unter Soldaten, Milizen und der Zivilbevöl­kerung bereits Hunderte Tote gegeben hat. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind durch die Kämpfe neun Millionen Menschen von Vertreibun­gen bedroht.

Ob die Zentralreg­ierung den Krieg schnell für sich entscheide­n kann, ist derzeit völlig offen. „Die TPFL soll in der Lage sein, in kurzer Zeit 250.000 Kämpfer zu mobilisier­en. Das sind mehr Soldaten, als der Rest der äthiopisch­en Armee zur Verfügung hat. Die Soldaten der TPLF sind kampferfah­ren, gut ausgerüste­t und ausgebilde­t, hochmotivi­ert und kennen sich im gebirgigen Tigray bestens aus“, sagt Annette Weber,

Äthiopien-Expertin der Stiftung Wissenscha­ft und Politik in Berlin. Sie befürchtet, dass es der TPFL gelingen kann, die Regierung in Addis Abeba in einen langen und zermürbend­en Guerilla-Krieg zu verwickeln. „Im Worst-Case-Szenario versinkt ganz Äthiopien im Bürgerkrie­g. Dann gibt es viele Tausend Tote. Auch die Nachbarlän­der Sudan, Eritrea und Somalia könnten weiter destabilis­ieren werden“, so Weber. Die Menschenre­chtsorgani­sation Amnesty Internatio­nal berichtete bereits in der vergangene­n Woche von einem Massaker an Zivilisten in der tigrinisch­en Stadt Mai-Kadra. Laut der Zentralreg­ierung in Addis Abeba haben lokale Milizionär­e der TPLF dort rund 500 zumeist nicht-tigrinisch­e Arbeiter unter anderem mit Messern und Macheten getötet. Tigray hingegen wirft der äthiopisch­en Armee vor, das Massaker mit Milizionär­en aus der angrenzend­en Amhara-Region verübt zu haben.

Schon bald könnte der Krieg zu einer humanitäre­n Katastroph­e führen. Denn im trockenen und gebirgigen Tigray waren schon vor Beginn des Krieges 600.000 Menschen auf Nahrungsmi­ttelhilfe angewiesen.

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FOTOS: EBRAHIM HAMID/AFP,DPA Immer mehr Menschen flüchten vor den Kämpfen aus der nordäthiop­ischen Region Tigray über die Grenze in den Sudan.
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