Ein Friedensnobelpreisträger führt Krieg
Äthiopiens Ministerpräsident Abiy Ahmed geht mit Waffengewalt gegen die abtrünnige Region Tigray vor. Der Krieg könnte Tausende Todesopfer fordern und die Region ins Chaos stürzen.
ADDIS ABEBA Im vergangenen Jahr erhielt er den Friedensnobelpreis, jetzt führt er Krieg im eigenen Land: Mit einer großen Militäroffensive geht Äthiopiens Ministerpräsident Abiy Ahmed gegen die abtrünnige Provinz Tigray vor. Hunderte sollen bereits gestorben sein, Zehntausende flohen vor den Kämpfen, es droht eine humanitäre Katastrophe. Der Bürgerkrieg könnte sich auf weitere Landesteile ausweiten und das ganze Horn von Afrika destabilisieren.
Als Abiy – in Äthiopien werden selbst Regierungschefs mit dem Vornamen angesprochen – am 2. April 2018 zum Regierungschef ernannt wurde, überraschte der bis dahin loyale Funktionär des seit 1991 mit eiserner Hand regierenden repressiven Systems Äthiopien und die Welt mit einem atemberaubenden Reformtempo. Der jüngste Regierungschef Afrikas ließ Tausende von politischen Gefangenen und Journalisten frei, besetzte sein Kabinett zur Hälfte mit Frauen, begeisterte sein Volk mit einer Rhetorik von Liebe und Versöhnung
– und beendete nach mehr als 18 Jahren den Krieg mit dem Nachbarland Eritrea. Dem Konflikt waren bis zu 100.000 Menschen zum Opfer gefallen. Im mit rund 110 Millionen Einwohnern zweitbevölkerungsreichsten Staat Afrikas brach zunächst eine regelrechte Abiy-Mania aus. Doch davon ist nichts mehr zu spüren. Äthiopien ist seit Anfang November im Bürgerkrieg.
Der Konflikt zwischen Abiy und der Regionalregierung in Tigray schwelt bereits seit dessen Amtsübernahme vor zweieinhalb Jahren. Denn: Abiy Ahmed will in Äthiopien den Zentralstaat stärken und die in der Verfassung verankerte Autonomie der ethnisch geprägten Regionen schwächen. Dies stieß vor allem in der nördlichen Region Tigray auf erbitterten Widerstand. Denn Tigray hatte 1991 beim Sturz des kommunistischen Diktators Mengistu Haile Mariam eine wesentliche Rolle gespielt und deshalb bis zum Amtsantritt Abiys in ganz Äthiopien übermäßig großen politischen Einfluss.
Um Äthiopien zu einen, hatte Abiy eine Einheitsregierung gebildet, der die Partei „Volksbefreiungsfront von Tigray“(TPLF) jedoch nicht beitrat. Als Abiy zu Beginn der Pandemie im Frühjahr die ursprünglich geplanten Wahlen verschieben ließ, organisierte Tigray im September gegen den Willen der Regierung selbst Wahlen. Die TPLF soll dabei mehr als 98 Prozent der Stimmen erhalten haben. Die Zentralregierung erkannte das Ergebnis nicht an. Anfang November setzte Abiy die Regierung in Tigray ab. Nach Angaben
der Regierung in Addis Abeba überfiel die TPLF daraufhin einen Stützpunkt der Armee und gelangte so in den Besitz schwerer Waffen. Der Bürgerkrieg brach aus.
Abiy befahl der äthiopischen Armee, Stellungen der Aufständischen aus der Luft und mit Bodentruppen anzugreifen. Mittlerweile wird nicht nur in Äthiopien gekämpft. Weil sie Eritrea vorwirft, die Regierung in Addis Abeba zu unterstützen, griff die TPLF Ende vergangener Woche auch den Flughafen in Asmara an, der Hauptstadt des angrenzenden Eritreas. Auf Twitter und in Fernsehansprachen berichtet Abiy, dass die äthiopische Armee große Teile Tigrays bereits „befreit“habe und die Armee große Bodengewinne mache. Unabhängig bestätigen lassen sich die Berichte nicht. Über Tigray wurde der Ausnahmezustand verhängt, Internet- und Telefonverbindungen wurden gekappt, Straßen abgeriegelt, Journalisten und unabhängigen Beobachtern wird der Zugang zum Kriegsgebiet verwehrt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass es unter Soldaten, Milizen und der Zivilbevölkerung bereits Hunderte Tote gegeben hat. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind durch die Kämpfe neun Millionen Menschen von Vertreibungen bedroht.
Ob die Zentralregierung den Krieg schnell für sich entscheiden kann, ist derzeit völlig offen. „Die TPFL soll in der Lage sein, in kurzer Zeit 250.000 Kämpfer zu mobilisieren. Das sind mehr Soldaten, als der Rest der äthiopischen Armee zur Verfügung hat. Die Soldaten der TPLF sind kampferfahren, gut ausgerüstet und ausgebildet, hochmotiviert und kennen sich im gebirgigen Tigray bestens aus“, sagt Annette Weber,
Äthiopien-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Sie befürchtet, dass es der TPFL gelingen kann, die Regierung in Addis Abeba in einen langen und zermürbenden Guerilla-Krieg zu verwickeln. „Im Worst-Case-Szenario versinkt ganz Äthiopien im Bürgerkrieg. Dann gibt es viele Tausend Tote. Auch die Nachbarländer Sudan, Eritrea und Somalia könnten weiter destabilisieren werden“, so Weber. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International berichtete bereits in der vergangenen Woche von einem Massaker an Zivilisten in der tigrinischen Stadt Mai-Kadra. Laut der Zentralregierung in Addis Abeba haben lokale Milizionäre der TPLF dort rund 500 zumeist nicht-tigrinische Arbeiter unter anderem mit Messern und Macheten getötet. Tigray hingegen wirft der äthiopischen Armee vor, das Massaker mit Milizionären aus der angrenzenden Amhara-Region verübt zu haben.
Schon bald könnte der Krieg zu einer humanitären Katastrophe führen. Denn im trockenen und gebirgigen Tigray waren schon vor Beginn des Krieges 600.000 Menschen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen.